Merci, Jury: Udo am Flügel und nicht, wie ursprünglich gedacht, am Fagott. Nur Modugno ging mit null Punkten nach Hause.

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Ich war noch niemals in Luxemburg. Der Satz ist nicht von mir, aber der Inhalt könnte von mir sein, der Satz ist von Udo Jürgens, mit dem ich im Frühstücksraum des Hotels La Gorge du Chien sitze, er sagt diesen Satz und lächelt, er spricht ihn melodiös summend, so als sei er eine Zeile aus einem Lied oder der Refrain. Es ist der 4. Mai 1966, und morgen findet zum zehnten Mal der Grand Prix Eurovision de la Chanson statt.

Udo isst ein Rührei, dazu Toast, und er trinkt Kamillentee, den er stark mit Kunsthonig süßt, er sagt, das sei gut für seine Kehle, und lacht, weil das Hotel unverständlicherweise auf Deutsch "Hundekehle" heißt, er muss seine Gurgel schonen, er hat morgen Abend einen großen Auftritt, aber offenbar geht das Summen nach jedem Bissen und jedem Schluck ein bisschen besser. "Ich war noch niemals in Luxemburg", mir kommt vor, dass das letzte Wort vielleicht eine Silbe zu lang ist, es holpert irgendwie, ich sage es ihm, er aber schüttelt den Kopf, man könne das schon, indem man das "in" verschleppt und gleich in Luxemburg übergehen lässt oder Luxemburg dehnt und auf die übliche Pause zwischen dem ersten und zweiten Teil des Refrains verzichtet, dann passt das auf seine kleine Melodie, die zweite Zeile hatte er noch nicht, er singt da einfach Platzhalterworte wie Honigersatz, Salz und Tee und alles, was er sonst noch auf dem Tisch findet. Er erzählt, dass das unter Textkomponisten gar nicht unüblich sei, Nahrungsmittel als Platzhalter zu verwenden, Paul McCartneys Yesterday hieß als Arbeitstitel "Scrambled Eggs", und Ralf Bendix hätte seinen Babysitter Boogie in der Demoversion immer als "Tilsiter Tango" gesungen.

Talenteärmeres Nachbarland

Letztes Jahr gewann in Italien beim Eurovision Song Contest France Gall, sie sang für Luxemburg, weil es in Frankreich so viele großartige Kandidaten gab, man wich dann aus ins talenteärmere kleine Nachbarland, das war ja gängige Praxis, sogar Belgien lieferte Legionäre wie Solange Berry 1958 und Griechenland Nana Mouskouri 1963, Luxemburg nimmt sie alle in Sangesasyl, und einen Sieger gab's auch schon aus Frankreich, das war Jean-Claude Pascal 1961, den Udo schnippisch "Old Segelohr" nennt, vielleicht weil er selbst ziemliche Löffel hat.

France Gall sang Poupée de cire, poupée de son von Serge Gainsbourg, der Text war und ist zweideutig konnotiert, als die Sängerin herausfand, dass es im Song um Defloration ging, weigerte sie sich fortan, das "dumme Lied", wie sie es bezeichnete, jemals wieder zu singen oder auch nur darüber zu sprechen. Udo vergöttert Gainsbourg, der ja auch nicht gerade mit kleinen Ohren gesegnet ist, und bezeichnet France Gall als "süßen Käfer", und er soll morgen Abend Österreich für den Song Contest vertreten. Ich lese ihm, damit er seine Stimmbänder schont und um ihn aufzuheitern oder abzulenken, das vor, was ich gestern im Tourismusbüro bekommen habe, das deutschsprachige Kapitel einer kleinen, selbstironischen Broschüre des Fremdenverkehrsverbandes in den zwölf Sprachen der Wettbewerbsteilnehmer:

Zehn Legenden über Luxemburg

1. Der Osterhase wird dort wie ein Heiliger verehrt.

2. Unter dem gesamten Land sind gigantische Wonton-Suppen-Fabriken, die durch ein kompliziertes Pipelinenetz chinesische Restaurants auf der ganzen Erde versorgen.

3. Radrennprofi Fränk Schleck lebt in einem riesigen Zinnbecher und trägt Schuhe, die aus der Haut von hunderten Wespen gefertigt sind.

4. Rückwärts geschrieben heißt das Land wie ein mexikanischer Grottenolm (Grubmexul), ein Hinweis darauf, dass Luxemburg einst zu einem aztekischen Riesenreich gehörte.

5. Reis wird individuell bemalt, jedes einzelne Korn, von eigens dafür ausgebildeten Pferden.

6. Energie wird in Luxemburg aus Speichel gewonnen, der in enormen Zinnbechern gesammelt wird, Spucken ist fast so wichtig wie Atmen.

7. Die Währung Luxemburgs ist die Kirsche, jeder trägt statt eines Huts ein Nest auf dem Kopf, ab und zu fällt eine Kirsche ins Nest, so basiert Reichtum auf dem Zufallsprinzip.

8. Die Echternacher Springprozession ist eine religiöse Prozession, die jedes Jahr am Dienstag nach Pfingsten im Bezirk Echternach stattfindet. Teilnehmer "springen" zu Polkamelodien durch die Straßen des Landes in ein kleines Dorf namens Nospelt, um dort eine der nur an diesem Tag erhältlichen Keramikpfeifen in Vogelform, den Péckvillchen, zu bekommen (E Péckvillchen ass eng aus Toun gebake Päif a Form vun engem Villchen), ein kulturelles Erbe aus der Zeit der Azteken.

9. Nur Fränk Schleck hat das Monopol, diese Pfeifchen zu produzieren.

10. Man glaubt in Luxemburg, die Seele bestünde aus Zinn und Spucke.

Aber Udo verzieht sein Gesicht nicht, und ich bin jetzt auch nicht mehr sicher, ob ich das lustig finden soll, was mir gestern noch so Spaß gemacht hat, na ja, bisschen mit der Brechstange sind die Witze schon, kann sein, dass man als Luxemburger so etwas komisch findet, ich kann das nicht beurteilen, ich war ja, wie gesagt, auch noch niemals hier, weiß nicht, wie die hier so, nun ja, "ticken", und eine Wonton-Suppe hab ich ebenfalls noch nie gegessen, aber vielleicht speichert Udo sie ab als Platzhalter, oder es ist bereits geschehen. "Ich war noch niemals in Luxemburg, schwamm noch niemals in Wonton, sprang nie durch Echternach in Vogelform."

Warum nur, warum

Udo ist mit seinem Frühstück fertig, ich hab kaum was runterbekommen, so nervös bin ich, nur ein hartgekochtes Ei, das mir fast im Hals steckengeblieben ist, mir kommt vor, dass ich für ihn nervös bin, er ist die Ruhe selbst, wir werden abgeholt, ein Fahrer, der sich als Hans vorstellt, bringt uns zur Villa Louvigny, wo Lichtproben und zwei Durchläufe stattfinden sollen, morgen muss dann alles sitzen. Sein Lied heißt Merci, Chérie, ich hatte ihm abgeraten, sein geliebtes Fagott zu spielen, stattdessen solle er sich an einen Flügel setzen und singen.

Es gibt bei dem Lied, von dem ich überzeugt bin, dass es zumindest unter die ersten sechs kommen kann, so wie in den Vorjahren, als er 1964 mit Warum nur, warum Sechster wurde und 1965 mit Sag ihr, ich lass sie grüßen Vierter, es gibt also eine Stelle in dem Lied, die mich rätseln lässt und die auch er mir nicht erklären kann, er stammelt etwas hilflos, das sei eine sogenannte Geisternote, er hätte das komponiert, es hätte sich quasi selbst geschrieben, ja, er sänge es auch, aber hätte keine Ahnung, wie die Note sich da immer einschleicht. Gestern am Abend sind wir noch durchs Örtchen geschlendert, durch die Unterführung Kinnekswiss-Glacis, dort sang er, weil die Akustik so gut war, Merci, Chérie einmal fast komplett durch, also bis zu der fraglichen Stelle: "... schau nach vorn, nicht zurück, zwingen kann man kein Glück, denn kein Meer ist so wild wie die Liebe ...", die Liebe auf dem -be lang gedehnt, und da ist sie plötzlich, die Geisternote, was hört man da, hört man sie tief oder hoch? Wie singst du sie, Udo? Hoch oder tief? Er behauptet, tief, aber ich höre sie hoch, wenn er gesagt hätte, er sänge sie hoch, hätte ich sie vermutlich tief gehört.

Die Kinnekswiss-Note

Gut, es ist jetzt nicht direkt eine Geisternote, die Brahms mal einem seiner Schüler so erklärt hat: "Wenn man vier Töne im richtigen Rhythmus spielt, hört man den fehlenden fünften." Und als der immer noch nichts hörte, meinte der Meister: "Sie müssen nur auf die Noten achten, die sie nicht spielen", worauf der resigniert seufzte: "Ach, das kann ich auch zu Hause." Aber was hier auf der letzten Silbe von Udos Liebe passiert, sind zwei Töne, die auf unterschiedliche Art wahrgenommen werden können, und wir nennen sie aus Ermangelung einer Bezeichnung und Hommage an diesen Ort die Kinnekswiss-Note.

Insgeheim hoffe ich, dass Udo siegen wird, denn ein viertes Mal wird er wohl nicht antreten, das meinte er vorhin auch beim Rührei, er könnte sich höchstens noch vorstellen, für jemand anderen, vielleicht für Gott (er meint Karel, den er und dessen goldene Stimme über alle Maßen schätzt), etwas zu schreiben, und weil der aus der nicht am Wettbewerb teilnehmenden ČSSR ist, vielleicht als Legionär für das Fürstentum Seborga, ein Kondominat, das von Mimosen und Ginster lebt, also wenn es diesmal nicht klappen sollte, dann nur noch als passiver Teilnehmer, als Strippenzieher.

Mit 66 Jahren

Hans bringt uns zum Veranstaltungsort, die Sicherheitsvorkehrungen sind lasch, Hans stempelt uns einen Übergabeschein ab, den er im Hotel für uns mitbekommen hat, damit kommen wir in den Saal, ich komme als Udos persönlicher Assistent mit rein. Die Orchestermusiker sind bereits da, und im Backstagebereich begrüßen sich die einzelnen Sänger mal herzlich, mal reservierter, Udo ist beliebt, alle Frauen bekommen Wangenküsse, eine lange Umarmung mit Margot Eskens, der deutschen Teilnehmerin, deren Die Zeiger der Uhr mich jedes Mal, wenn ich es höre, zu Tränen rührt, Udo und Margot kennen sich offenbar besser, denn als sie in seinen Armen liegt und kaum hörbar "Ach, Udo" seufzt, zwinkert er mir zu, der Glückspilz. Domenico Modugno hingegen, der Italiener, ist spröde, ja offen feindselig gegen die anderen Teilnehmer, er ist der Einzige, so erfahre ich, der Extrawünsche beim Catering angemeldet hat, er verlangte ein riesengroßes Nougatei, in das er immer wieder beherzt beißt, kein Mensch erzählt ihm, dass sein Mund schokoladeverschmiert ist, so sieht es zumindest aus, bis wir merken, es ist nur sein Schnurrbart.

Die Durchgänge verlaufen pannenreich, mal ist das Orchester viel zu laut, mal kommen die Anschlüsse zu langsam, Modugno kommt mit seinen eigenen Musikern, ihm ist das Orchester zu opulent, wie er in haarsträubendem Englisch erklärt, es würde seinen Titel Dio, come ti amo zerstören, weil es ihn nicht verstünde, alle lachen. Als Pausenfüller spielt eine alberne Dixielandcombo mit Waschbrett namens Les Haricots Rouges (Die roten Bohnen), die behaupten, mal Vorgruppe der Beatles gewesen zu sein, niemand mag sie, das lässt unterdessen die Teilnehmer mehr zusammenrücken, die ganze Atmosphäre hat etwas von einem ausgelassenen Schulskikurs, und Udo, ganz euphorisch, meint zu Margot und mir, dass sich die Gruppe, die er "Klasse von 66" nennt, wenn das hier alles vorbei ist, doch im Alter noch mal treffen könnte, am selben Ort, mit dem gleichen Programm, vielleicht wenn wir, um es symmetrisch zu machen, alle 66 Jahre alt sind, Margot lacht, sagt: "Genau, mit 66 Jahren ist noch lang noch nicht Schluss."

Schnecken wie Radiergummis

Am Ende der Generalprobe, die bis weit nach Mitternacht dauert, gehen ein paar von uns ins Restaurant Um Dierfgen, sie haben dort Kniddelen mat Schleeken (mit Schnecken gefüllte Knödel), die Sänger sind erschöpft, aber nicht von den Auftritten, sondern von der zermürbenden Warterei und dem Generve von Modugno, wir lachen viel, die Knödel sind gut, die Schnecken wie Radiergummis, Tereza Kesovija, die für Monaco singt, auf ausdrücklichen Wunsch von Fürstin Gracia Patricia, aber eigentlich Jugoslawin ist, schläft am Tisch ein, ich flirte mit Michèle Torr, ich glaube, ich könnte mich in sie verlieben, sie fasst mich auffallend oft am Arm, meine Loyalität zu Udo weicht etwas, aber das kann an der Übermüdung und der Sauerstoffarmut hier im Schneckenladen liegen. Ich wünsche mir jetzt ein bisschen, dass sie morgen gewinnen möge, flüstere ihr das auch zu, sie haucht mit ihrem zauberhaften Akzent auf Deutsch: "C'est lieb von dir."

Um halb drei schwanken wir ins Hotel zurück, auf den engen Gassen singen wir noch alle Dickie Rocks Come back to stay, wir lieben Dickie, unglaublich lustiges Kerlchen aus Irland, er ist komplett besoffen, kann kaum noch gehen, Udo und Margot stützen ihn, wir alle können sein Lied besser als er selbst, aber er lacht, der Kontrast zu Modugno könnte nicht größer sein, mir fällt auf, wie gigantisch Dickies Ohren sind, beinahe größer als sein Kopf, wie zwei Henkel, er hat die größten Ohren, die ich in meinem ganzen Leben gesehen habe, er könnte sich, wenn er grinst, von einem Ohr ins andere etwas flüstern, als ich die bei mir untergehakte Michèle darauf hinweise, raunt sie, sie hätte gehört, in sein linkes Ohr hätte mal ein Pferd gebissen. Ich frage sie, ob sie noch mit in mein Zimmer käme, aber sie lehnt ab, sie müsse fit für morgen sein, vielleicht vermutet sie, dass ich als Freund Udos sie in der Nacht zu schwächen beabsichtige.

"Good morning, Luxembourg"

Josiane Shen, Moderatorin bei Télé Luxembourg, führt durch den Abend, sie sorgt für Lacher, weil sie bei der Punktevergabe am Ende Großbritannien mit "Good night, London" begrüßt und sich, als sie ihren Fehler bemerkte, korrigiert. Die britische Außenstelle meinte: "Good morning, Luxembourg", der neben mir sitzende Domenico Modugno bekam den Witz nicht mit, fragte "Cosa è successo, perché ridono?" (Was ist passiert, warum lachen sie?), und ich sagte, sie hätten einen Witz über Nougateier gemacht, er schaute mich wie ein Stelzvogel säuerlich an.

Und um es kurz und schmerzlos zu machen, der Abend verlief ansonsten reibungslos, die Norwegerin Åsa Klevelund trat nicht wie vorgeschrieben in Abendgarderobe auf, sondern im Schlafanzug, der Spanier Raphael lieferte die leidenschaftlichste Performance mit Yo soy aquél, er hatte mehr Pathos als Dickie Ohren, es quoll diesem kleinen, sympathischen Spanier aus jedem Knopfloch, allen Zuschauern stockte der Atem, trotzdem wurde Udo Sieger, mit großem Abstand zum restlichen Teilnehmerfeld, von Deutschland bekam er allerdings keinen einzigen Punkt, weshalb er sich auch französisch mit "Merci, Jury" bedankte, ich schämte mich für mein Heimatland, Margot und Michèle teilten sich punktgleich den zehnten Platz und wurden enge Freundinnen, der Plan, irgendwann gemeinsam beim Song Contest anzutreten, blieb allerdings unrealisiert.

Dickie wurde guter Vierter, aber der eigentliche Triumph war, dass Domenico Modugno nicht bloß Letzter wurde, sondern von niemandem einen mickrigen Punkt bekam, er musste mit null Punkten heimfahren, auch wenn man ja bekanntlich Nichts nicht bekommen kann. (Tex Rubinowitz, 8.5.2017)