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Villers-Cotterêts, das 2005 seinen berühmtesten Sohn Alexandre Dumas mit einer Statue würdigte (Bild), steht symbolhaft für die Probleme Frankreichs, die das neue Staatsoberhaupt anpacken muss.

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Bürgermeister Franck Briffaut sorgt sich um die Jobs.

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Die Meinungsforscher sind sich einig: Marine Le Pen wird am Sonntag wohl nur etwa 40 Prozent der Stimmen erhalten und damit klar gegen den Parteilosen Emmanuel Macron verlieren. Bloß, mit Umfragen ist es so eine Sache. "Die einen werden sagen, sie wählen Le Pen, und sie kreuzen dann doch Macron an. Und die anderen machen es umgekehrt", erklärt ein älterer Passant vor dem Zeitungsgeschäft in Villers-Cotterêts und kreuzt, um das Gesagte bildhaft zu machen, seine beiden Zeigefinger.

Und wen wählt er selbst? Der Grauhaarige lacht nur. Gut, weniger direkt gefragt: Was hält er vom lokalen Bürgermeister Franck Briffaut, Mitglied des Front National (FN)? Schulterzucken, dafür zischt aber seine Frau: "Besser als sein linker Vorgänger ist er allemal!"

So antworten manche der 11.000 Einwohner von Villers-Cotterêts, 70 Kilometer nordöstlich von Paris. Niemand mag zugeben, den FN-Kandidaten gewählt zu haben – aber ebenso hat niemand etwas an ihm auszusetzen. Im Gegenteil, im Spielzeugladen beklagt eine junge Verkäuferin, dass es "immer mehr Flüchtlinge" im Ort gebe.

Im ersten Durchgang zur Präsidentschaftswahl vor zwei Wochen holte Marine Le Pen in Villers-Cotterêts 34,3 Prozent der Stimmen, 15 Prozent mehr als Macron. Bei den Gemeindewahlen 2014 erhielt der FN 41,5 Prozent; seither regiert Briffaut im Rathaus.

Leben von der Vergangenheit

Villers ist einer jener vergessenen "periurbanen" Orte am Rande des Pariser Großraums, wo nicht mehr viel gedeiht außer der Arbeitslosigkeit. Das Landstädtchen lebt von seiner Vergangenheit, im Tourismusbüro erzählt die Angestellte, wie König François I. im hiesigen Schloss im Jahr 1539 Französisch zur Amtssprache bestimmt habe; und Richtung Bahnhof stehe das Geburtshaus von Alexandre Dumas (Die drei Musketiere, Der Graf von Monte Christo). Und in beiden Weltkriegen sei Villers ein wichtiger Schauplatz gewesen.

Zur neuen französischen Revolution – der von rechts – schweigt die junge Frau auf Weisung des Rathauses. Dabei macht FN-Bürgermeister Briffaut gar nicht den Eindruck eines Rechtsextremen: Der distinguierte, leutselige Gemeindevorsteher erzählt, wie er probiert, den lokalen Hauptarbeitgeber Volkswagen im Ort zu behalten. Heute versucht er gerade, den Konzern mit einem ansässigen Lederpolsterhersteller zusammenzubringen.

Die Deutschen haben in Villers bereits Teile ihrer Frankreich-Verteilzentrale abgebaut und in die Nähe des Pariser Flughafens Roissy verlegt – dort gibt es bessere Verkehrsverbindungen und besser ausgebildetes Personal. Dass VW ganz abziehen könnte, mag sich Briffaut gar nicht erst vorstellen: Das wäre eine soziale Katastrophe ohnegleichen.

In Briffauts Büro prangt ein Porträt von Dumas, dessen Vater unter Napoleon der erste schwarze General Frankreichs war. Mit Hautfarben hat der 59-jährige Exmilitär kein Problem: "Als mir ein Mitbürger einmal zuraunte, er wähle den Front National, weil ihm ein Araber das Motorrad geklaut habe, stellten sich mir die Nackenhaare auf."

Briffaut schüttelt den Kopf über den FN-Interimschef Jean-François Jalkh, der in Paris vergangene Woche zurücktreten musste, weil er den Einsatz des Gases Zyklon B in den Vernichtungslagern der Nazis als "technisch unmöglich" bezeichnet hatte. Revisionismus ist nicht Briffauts Ding. Auf Jean-Marie Le Pen, der die Gaskammern der Nazis als "Detail der Geschichte" bezeichnet, lässt er aber auch nichts kommen.

Gegen die "Oligarchen"

Beim Front National macht Briffaut aus einem anderen Grund mit: "Gegen die EU!" Mit Verve führt er aus, wie der starke Euro der französischen Wirtschaft schade, ja wie die "ultraliberalen Brüsseler Oligarchen" Frankreich zerstörten. Dass die Strukturschwächen Frankreichs oder auch des Departements Aisne für die Wirtschaftsmisere zumindest mitverantwortlich sein könnten, lässt der FN-Bürgermeister nicht gelten: "Die EU hindert den französischen Staat daran, eine ökonomische Strategie mit den nötigen Reformen in die Wege zu leiten."

Doch könnte, wenn Präsidentin Le Pen ihre Ideen umsetzen würde, Volkswagen nicht ganz wegziehen? "Wir sind nicht gegen Europa an sich, wir wollen wie einst Charles de Gaulle ein 'Europa der Vaterländer' – und das würde unsere Wirtschaftsbeziehungen mit Deutschland keineswegs schmälern", meint der Frontist, der vor dem Rathaus sieben blau-weiß-rote Trikoloren hissen ließ, die blaue EU-Fahne aber einzog. Er weist auch ökonomische Berechnungen zurück, dass der Euro-Ausstieg Frankreich in eine schwere Rezession mit hoher Inflation stürzen und gerade die wirtschaftlich schwächeren Le-Pen-Wähler hart treffen würde.

Große Unentschlossenheit

Auch in den Straßen von Villers-Cotterêts findet sich niemand, der auf die EU gut zu sprechen wäre. "Seit der Abstimmung von 2005, als die Franzosen gegen die EU-Verfassung stimmten, diese aber trotzdem umgesetzt wurde, ist etwas zerbrochen", sagt Liliane, eine ältere Dame vor dem Blumenladen. Die Kirchgängerin will aus Prinzip nicht für Le Pen stimmen, aber auch nicht für Macron, der mehr Europa wünscht. "Ich werde einen ungültigen Stimmzettel abgeben oder mich der Stimme enthalten", meint sie.

Lilianes Unentschlossenheit gilt auch der EU. Bei aller Kritik daran fürchtet eine Zweidrittelmehrheit der Franzosen laut Umfragen den Euro-Ausstieg. Ebenfalls unentschlossen, weiß Liliane eines: "Am Sonntag stimmen wir auch über die EU ab." Zuerst muss sie jetzt aber zur heiligen Messe. (Stefan Brändle aus Villers-Cotterêts, 6.5.2017)