Am 4. Mai 1986 wurde das Dorf Zalyssia evakuiert. Jemand verlor dabei seine Gasmaske, die hier nun seit 31 Jahren liegt.

Foto: Marco Schreuder

Generationenlang wohnten die Bewohner mancher Dörfer in der heutigen Schutzzone. Mit ihrer Evakuierung ging eine Volkskultur verloren, wie hier in Zalyssia.

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Die Radarstation Duga-1 ist atemberaubend groß. Sie konnte durch Reflexionen in der Atmosphäre tausende Kilometer weit abgeschossene Raketen entdecken und trotzte dadurch der Erdkrümmung.

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Im verlassenen Kindergarten berühren Bilder der hinterlassen Puppen und Spielwaren. Schlafräume waren in der UdSSR üblich. Kinder mussten nachmittags ein Nickerchen machen.

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Das Kernkraftwerk Tschernobyl heute. Ende November 2016 konnte der neue Sarkophag seine endgültige Position erreichen und ist das teuerste Bauwerk der Erde.

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Prypjat war eine sozialistische Musterstadt, die letzte ihrer Art. Wo einst der Hauptplatz war, durchbrechen Bäume nach und nach den Asphalt.

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Im einstigen Supermarkt von Prypjat stehen noch Kühlvitrinen und Einkaufswägen.

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Das Autodrom sollte bei den Feiern zum 1. Mai feierlich eröffnet werden. Doch diese und alle anderen Attraktionen des Vergnügungsparks sollten nie in Betrieb gehen. Am 27. April 1986 mussten 49.000 Bewohner evakuiert werden.

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"Wir werden Sie darauf aufmerksam machen, wenn wir einen radioaktiven Hotspot passieren. Bleiben Sie immer bei der Gruppe. Tragen Sie nur langärmelige Kleidung und lange Hosen, sonst dürfen Sie die zwei Schutzzonen nicht besuchen. Es gibt Regionen, die Sie keinesfalls betreten dürfen." Die Instruktionen im Bus von Kiew nach Tschernobyl, ukrainisch eigentlich Tschornobyl, sind deutlich. Glaubt man zu Beginn – mit etwas schlechtem Gewissen –, ein Katastrophentourist zu sein, lernt unsere Gruppe schnell, dass sie sich auf einer Schulungsfahrt befindet.

Dies ist auch die Vorgabe an die beiden Veranstalter in Kiew, die Fahrten in die Schutzzonen in der Region Polesien am Fluss Prypjat, die sich von Polen über Weißrussland bis zur Ukraine erstreckt, anbieten. Nur zu Bildungs- und Wissenschaftszwecken ist das Betreten des Areals erlaubt. Was man dort zu sehen bekommt, erschreckt, erstaunt und fasziniert.

Verschwundene Generationen

Nach etwa eineinhalb Stunden Busfahrt erreichen wir den ersten Securitycheck an der ersten evakuierten Schutzzone, die einen Kreis 30 Kilometer rund um das Kernkraftwerk Tschernobyl bildet. Dass ab hier der Wald am Straßenrand nicht mehr bewirtschaftet wird, ist deutlich sichtbar. Mache Wälder sehen exakt 31 Jahre alt aus. "Sie befinden sich nun in unserer ersten Station, dem Dorf Zalissija", heißt es dann.

"Hier lebten einfache Menschen relativ unabhängig von sowjetischer Politik seit Generationen in ihren Häusern. Mit ihnen ist eine eigene Kultur dieser Region untergegangen", sagt unsere Begleitung. Tatsächlich hat man beim Betreten der halb zerfallenen Häuser das beklemmende Gefühl, immer noch in die Privatsphäre der Familien einzudringen. Die Schweineställe sehen aus, als ob darin bis vor kurzem Gegrunze zu hören war. Gummistiefel liegen herum, eine Teekanne steht in einer Küche, vor einem Haus liegt eine Gasmaske. Die einst gepflanzten Rosen und Gartenblumen sind verwildert. Die Utensilien liegen hier seit dem 4. Mai 1986 verwaist in verwilderten Gärten, als die Dörfer ihn diesem 30-Kilometer-Umkreis evakuiert wurden.

Das jüdisch dominierte Tschornobyl

Weiter geht es zur eigentlich namengebenden Stadt des Kernkraftwerks: Tschornobyl. Als das Kraftwerk geplant wurde, war Tschernobyl, wie die Stadt russischsprachig in der UdSSR hieß, die mit rund 14.000 Einwohnern nächstgelegene Stadt. Also wurde das Atomkraftwerk in den 60ern, als man mit der Planung begann, nach dieser Stadt benannt. Die deutlich größere Stadt Prypjat wurde erst 1970 gegründet. Tschornobyl ist übrigens das ukrainische Wort für den Beifußkraut.

Erstaunlich lebendig wirkt es hier. "Es gibt hier noch Bars, einen Supermarkt und sogar eine Karaokebar. Hier leben noch zahlreiche Arbeiter und Wissenschafter. Auch ein Hotel gibt es hier." Ums Eck im einstigen Zentrum ist es aber schon weniger lebendig. Hier stehen die zerfallenen Häuser aus der Zeit der Jahrhundertwende. Viele Juden lebten in Tschornobyl. Bis heute pilgern zahlreiche Juden alljährlich hierher, um die Synagoge zu besuchen und das Grab des verehrten und berühmten chassidischen Rabbis Menachem Nachum von Tschornobyl, der hier im 18. Jahrhundert lebte, zu besuchen. Die Katastrophe von 1986 interessiert diese Besucher gar nicht. Tatsächlich erahnt man das reiche jüdische Leben, das Tschornobyl einst dominiert hatte – bis die Sowjetunion ab 1917 sukzessive alles veränderte und die Synagoge schloss.

Radarstation "Woodpecker" Duga-1

In einer Seitenstraße wird eine Radarstation erreicht, die die UdSSR hier einst geheim errichtete und wofür sie den Strom des benachbarten AKWs gut brauchen konnte – bis es 1986 verlassen und aufgegeben werden musste. Man traut beim Anblick seinen Augen nicht. Eine unfassbar riesige Anlage erhebt sich über die Wälder. Mit der Radarstation Duga-1, von der Nato einst Woodpecker genannt, konnten Interkontinentalraketen über tausende Kilometer entdeckt und Radiosender gestört werden.

Die Betreuerin unserer Gruppe erzählt über Bestrebungen, dieses einzigartige Denkmal des Kalten Krieges unter Unesco-Schutz zu stellen. Die ukrainische Regierung bietet die Monsteranlage allerdings nach wie vor zum Kauf an. Es wäre ein Verlust für diese besondere Episode der Menschheitsgeschichte.

In der Nähe der einstigen militärischen Geheimanlage befindet sich das Dorf Kopatschi. Hier befindet sich eines der am häufigsten fotografierten Motive, um das Leid der 160.000 Bewohner dieser Region, die evakuiert wurden, zu illustrieren. Der Kindergarten wurde so hinterlassen, wie er war. Man sieht noch Spielsachen und Puppen herumliegen. Bei diesem Anblick bleibt keiner der Besucher unberührt.

Vor dem Kindergarten zeigt man uns die Tücken der Radioaktivität. Auf einem Platz, der nur rund 20 mal 20 Zentimeter groß ist schlägt der Geigerzähler, den jeder Mitfahrende bekommen hat, plötzlich aus. "Wir wissen oft nicht, warum so kleine Flächen so verstrahlt sind, während nur zehn Zentimeter daneben die Strahlung so schwach ist wie in ganz Europa sonst auch. Vermutlich liegt Metall in der Erde", wird uns erzählt. Das erklärt auch, warum das Graben in der Erde dieser Region strikt untersagt ist. Moderne Wasserleitungen und Strom werden in den Sperrzonen ausnahmslos oberirdisch verlegt.

Das Kernkraftwerk

Endlich, nach einem neuerlichen Check an der streng bewachten Zehn-Kilometer-Sperrzonengrenze, erreicht man das Kernkraftwerk mit dem erst im November 2016 neu errichteten mobilen Sarkophag, der die nächsten 100 Jahre lang den Austritt von Radioaktivität verhindern soll. Das teuerste Bauwerk der Erde ist also eigentlich nur eine temporäre, und nach wie vor keine nachhaltige Lösung. Diese haben internationale Wissenschaftler nämlich nach wir vor nicht gefunden. Auch 31 Jahre nach der größten von Menschen verursachten Katastrophe zermartert sich die Wissenschaft das Hirn. Immerhin hat man nun 100 Jahre Zeit, um eine endgültige Lösung zu finden, sofern dies überhaupt möglich ist.

Erstaunlich ist aber der Blick auf den Geigerzähler. Die Gammastrahlung ist hier, direkt am Ursprungsort des Desasters, erstaunlich niedrig. Dies ändert sich aber nur einige Steinwürfe weiter. Nahe dem Roten Wald, der so heißt, weil die Bäume durch die Strahlung während der Katastrophe 1986 regelrecht verbrannten, schlägt der Geigerzähler Alarm. Weitergehen ist hier, am Ortseingang von Prypjat, dringend untersagt.

Die Geisterstadt

Prypjat gilt als Höhepunkt der Reise, und tatsächlich ist es für alle unserer Gruppe einhellig das Bizarrste, das wir je gesehen haben. Die letzte Musterstadt der Sowjetunion, das Idealbild einer sozialistischen Stadtplanung, ist eine Geisterstadt. Wo einst ein Prachtboulevard war, wächst ein Dschungel, der manchmal den Blick auf verwaiste Hochhäuser, einem Supermarkt, einem Stadion und einem Hotel freigibt. Im verfallenen Supermarkt stehen noch die Einkaufswagen herum, im Theater sind die Plakate und Transparente noch zu sehen, die man für die 1.-Mai-Parade 1986 vorbereitete. Sie wurden jedoch nie gebraucht, denn die Stadt wurde bereits am 27. April evakuiert. 49.000 Einwohner verloren ihre erst 1970 gegründete Heimat. Der Großteil der Bewohner arbeitete im Kernkraftwerk.

Ein Vergnügungspark erstreckt sich wie ein Mahnmal neben dem Stadtzentrum. Das Autodrom, das Riesenrad, das Karussell und die Schaukel, sie alle warteten auf die vor allem sehr jungen Familien, die hier größtenteils wohnten. Senioren gab es damals kaum im erst 17 Jahre alten Prypjat. Doch der Park der Freude sollte nie eröffnet werden. Diese war für den 1. Mai 1986 vorgesehen.

Auch Prypjat müsste dringend unter Denkmalschutz gestellt werden. Das verwilderte Freiluftmuseum ist ein einzigartiges Dokument sowjetischer Stadtplanung, eine Zeitkapsel, die aufgrund einer Katastrophe erhalten werden konnte. Doch auch hier zeigt die ukrainische Regierung vorerst kein Interesse. "Vor der jetzigen Regierung war es aber noch schlimmer", wird uns erzählt. "Es wurden aus zahlreichen Häusern Metalle und Heizkörper entfernt, um sie wiederzuverwenden. Dabei ging sehr viel kaputt."

Die Region ist aber nicht nur ein kulturelles Denkmal. Auch die Natur spielt mittlerweile eine große Rolle. In der gesamten Region, bis weit nach Weißrussland hinein, konnten sich Tiere und Pflanzen ungehindert verbreiten. Wölfe, Bären, Luchse, Wildschweine und die einzigartige Przewalski-Wildpferdrasse konnten neuen Lebensraum erobern.

Mahnmal mit wenigen Schülern

Es ist eine sehr empfehlenswerte und lehrreiche Reise in die Sperrzone rund um das Kernkraftwerk Tschernobyl. Doch welche Lehren können gezogen werden, angesichts der Tatsache weiterhin betriebener Kernkraftwerke in der Ukraine, die 48 Prozent der Gesamtstromerzeugung des Landes ausmachen? In Weißrussland, das von der Katastrophe 1986 am schlimmsten betroffenen war, werden gerade zwei neue Kraftwerke gebaut. Von Japan nach dem Fukushima-Desaster noch gar nicht gesprochen.

Das besonders durch Regen an der Alpennordseite 1986 sehr stark betroffene Land Österreich hat jedoch Lehren gezogen. Bis heute gibt es keine politische Kraft mehr, die Atomkraft unterstützen würde. Eine Reise in die Sperrzone in der Ukraine zeigt, dass dies ein kluger Konsens ist. Zu hoch ist der Preis, der bei einem Unfall zu zahlen ist. (Marco Schreuder, 8.5.2017)