Mit seinem Rückzug von allen Ämtern erweist sich Reinhold Mitterlehner einen Dienst und bringt Sebastian Kurz in Zugzwang. Kurz muss sich nun endlich deklarieren, was er will: Parteichef und/oder Spitzenkandidat der ÖVP werden oder eine eigene Bewegung gründen. Der Außenminister ist bereits seit Wochen als Undercover-Wahlkämpfer in den österreichischen Bundesländern unterwegs und schwänzt, wie auch am Dienstag wieder, dafür wiederholt Ministerratssitzungen.

"Finde, es ist genug"

Mitterlehner hat bei seiner emotionalen Rücktrittsankündigung kundgetan, dass "die Spitzen der Partei und auch der präsumtive Nachfolger schon monatelang wissen", dass er "nicht als Spitzenkandidat antrete". Durch die Vorkommnisse der vergangenen Tage hat sich Mitterlehner offenbar so düpiert gefühlt, dass er nicht nur die getroffene Vereinbarung aufgekündigt hat, sondern gleich alles hinschmiss. "Ich finde, es ist genug", hat er seinen Rückzug begründet – endlich, möchte man hinzufügen. Er hat sich vieles viel zu lange gefallen lassen. Es reicht ihm – zu Recht. "Ich bin kein Platzhalter, der auf Abruf agiert, bis irgendjemand Zeitpunkt, Struktur und Konditionen festlegt." Dieser Satz war auf Kurz gemünzt, der am Vortag erklärt hatte, der Job des Parteivorsitzenden sei "nicht so attraktiv".

Dass er weder Kurz noch Innenminister Wolfgang Sobotka erwähnt, aber sich ausdrücklich beim Koalitionspartner bedankt hat, spricht für sich: Kern und Mitterlehner verbindet ein pragmatischer Zugang, beide wollen etwas weiterbringen – wären da nicht Querschüsse aus beiden Parteien, in der SPÖ vor allem durch Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil. Mitterlehners Mahnung, man könne nicht Regierung und Opposition gleichermaßen sein, war nicht nur an Sobotka, sondern auch an andere in der Koalition gerichtet.

Van der Bellen mahnt zeitnahe Entscheidung

Kern hat die Vorlage Mitterlehners genutzt und verwandelt: Er will Kurz als Vizekanzler und bot explizit ihm eine Reformpartnerschaft bis zum regulären Wahltermin nächstes Jahr an. Taktisch geschickt nimmt Kern Kurz in die Pflicht. Auch Bundespräsident Alexander Van der Bellen mahnte eine "zügige und zeitnahe Entscheidung" an. Der Druck auf Kurz steigt, er steht gleich vor zwei wegweisenden Entscheidungen: Welche Position will er künftig in der ÖVP übernehmen? Und will er tatsächlich die Koalition sprengen? Denn nimmt Kurz das Angebot Kerns nicht an, steht er auch öffentlich als Sprengmeister der Koalition da. Will er nicht Parteichef werden, kann er als Drückeberger bezeichnet werden.

Für jemanden, der sich bisher zurückhielt und vorwiegend in eigener Sache agierte und agitierte, ist das keine angenehme Situation. Nicht nur Mitterlehner wird Kurz' Notlage mit gewisser Schadenfreude – die man ihm nach seinen Erfahrungen zugestehen kann – beobachten.

Mitterlehners Hinweis darauf, er sei "immerhin der vierte Obmann der letzten zehn Jahre", sollte seinen Parteifreunden zu denken geben. Er hat seiner Partei einen Spiegel vorgehalten. Das in der ÖVP so beliebte Spiel des Obmannabsägens hinterlässt nicht nur persönliche Wunden bei den Betroffenen, sondern es stärkt auch die Politiker- und Parteienverdrossenheit in der Bevölkerung und schwächt damit die Demokratie.

Mitterlehner hat in den vergangenen Wochen an Statur gewonnen und hat sich mit der Art und Begründung seines Rückzugs Respekt verdient. (Alexandra Föderl-Schmid, 10.5.2017)