Hannelore Kraft (SPD), Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen, zeigt SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz, wo es in Mülheim an der Ruhr vielleicht noch rote Wählerstimmen zu holen gibt.

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"Wieso schreibst du mit, was die Frau da sagt? Wieso schreibst du mit, was ich da sage?" Man weiß nicht, was bohrender ist: Der Blick oder die Frage, die der Vierjährige im Betriebskinderkarten einer Schmiede in Hagen stellt. "Was will die Frau bei uns?", will er jetzt auch noch wissen.

Letzteres zumindest ist leicht zu beantworten. Hannelore Kraft (SPD), Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen, will an diesem Vormittag gute Bilder mit niedlichen Kindern und am Sonntag die Wahl im bevölkerungsreichsten Bundesland Deutschlands gewinnen. Darum kniet sie bei den Knirpsen auf dem Boden und bewundert Tiere aus Holz. "Toll, der Marienkäfer", sagt sie. Und: "So ein schöner Frosch." Niemand im Fotografentross hat große Eile. Man weiß: Kraft posiert so lange, bis alle zufrieden sind.

"Aktion Morgenröte"

"So, jetzt müssen wir mal weiter", ruft sie dann doch irgendwann. "Tschüüüß", ab in den Wahlkampfbus, weiter durchs Ruhrgebiet, noch eine Betriebsbesichtigung, am Abend steht in Bochum eine Diskussionsveranstaltung auf dem Programm. Am nächsten Tag ist jetzt noch ein Termin um 5.30 Uhr eingeschoben worden – "Aktion Morgenröte".

Da wird Kraft vor einem Werkstor stehen und mit Arbeitern reden. "Mach ich auch noch dazu, die warten auf mich", sagt sie und schaut dabei nicht unglücklich drein. Kämpfen bis zum allerletzten Moment, noch einen überzeugen und vielleicht noch eine, das ist das Kraft-Programm in den letzten Tagen vor der Wahl.

Kleine Bundestagswahl

Denn es geht um sehr viel am Sonntag. Natürlich will die 55-Jährige wieder Ministerpräsidentin werden. Den Job hat sie seit 2010, die SPD regiert in Düsseldorf mit den Grünen.

Doch die Wahl hat auch eine enorme bundespolitische Bedeutung. In Nordrhein-Westfalen leben 18 Millionen Menschen – so viele, dass Wahlen an Rhein und Ruhr immer auch als "kleine Bundestagswahl" und sehr großer Stimmungstest für den Bund gelten. Jahrzehntelang wurde das Land von den Sozialdemokraten regiert. In den 1950er-Jahren bis Mitte der 1980er-Jahre galt es als das wirtschaftliche Aushängeschild der Bundesrepublik.

Doch dann fielen hunderttausende Arbeitsplätze in der Stahl-, Bergbau- und Maschinenbauindustrie weg. Vor allem im Ruhrgebiet ist der Strukturwandel noch nicht bewältigt. Es gibt Orte wie Gelsenkirchen, da liegt die Arbeitslosenquote bei 13,7 Prozent. Und 2005 geschah dann das für viele Sozialdemokraten Unvorstellbare: Sie verloren nach 39 Jahren ihre Herzkammer.

Schröders Niederlage 2005

Dieses Ereignis ist für immer auch mit einer bundespolitischen Niederlage verbunden. Anfang 2005 waren die Sozialreformen des damaligen Kanzlers Gerhard Schröder (Agenda 2010) in Kraft getreten. Der Protest war enorm. Bei der Wahl in Nordrhein-Westfalen rasselte die SPD von 42,8 auf 34,5 Prozent, die CDU kam mit der FDP an die Regierung.

So könne er nicht weiterregieren, beschied Gerhard Schröder und rief Neuwahlen im Bund aus. Das Ergebnis: Im Herbst 2005 wurde Angela Merkel Kanzlerin.

Wenn die SPD nach dem Saarland und Schleswig-Holstein ausgerechnet die Wahl in Nordrhein-Westfalen vergeigt (die letzte vor der Bundestagswahl im Herbst), dann sinkt die Chance von Martin Schulz, der auch aus Nordrhein-Westfalen stammt, ins Kanzleramt einzuziehen, praktisch auf null. So sehen es auch viele in der SPD.

SPD als "Kümmererpartei"

Also kämpft Kraft, lässt sich in Bochum die Nöte von Friseuren schildern und versichert: "Wir sind die Kümmererpartei." Man wolle keinen zurücklassen, erst recht kein Kind, daher habe Rot-Grün in Kindergärten und Infrastruktur investiert. Doch die Opposition wirft ihr Wirtschaftsdaten vor, die NRW nicht in gutem Licht zeigen: höchste Verschuldung der deutschen Länder, höhere Arbeitslosigkeit als im Bundesdurchschnitt, weniger Pro-Kopf-Ausgaben für Schüler.

Zudem hat der grundsätzlich freundliche und liberale CDU-Spitzenmann Armin Laschet, der Vizechef der Bundespartei ist, in den vergangenen Wochen noch die innere Sicherheit als Thema entdeckt und wirft der SPD Versagen im Fall des Weihnachtsmarkt-Attentäters Anis Amri sowie der Kölner Silvesternacht 2015 vor.

In Umfragen lag lang die SPD vorn, dann holte die CDU auf, die neueste Umfrage zeigt sie sogar vorn. Rot-Grün hat keine Mehrheit mehr, Rot-Rot-Grün schloss Kraft auf den letzten Metern aus. Die ständigen Fragen nach den schlechten Umfragen nerven die resolute Spitzenkandidatin ohnehin. "Kümmert mich nicht", sagt sie dann unwirsch, "ich bin jetzt bis zum Wahlabend in einem Tunnel." (Birgit Baumann aus Bochum, 12.5.2017)