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Zwei Gamela-Frauen stehen kurz nach dem Angriff auf ihre Gemeinschaft unter Schock. Die Konflikte um Land werden in Brasilien brutaler.

Foto: Reuters / Lunae Parracho

"Plötzlich stürzte ich, war benommen", erinnert sich Inaldo Serejo. Ein Verwandter habe ihn weggezogen. "Sie kamen hinter mir her, sie wollten mich töten." Als der Führer des brasilianischen Indianervolkes der Gamela wieder zu sich kam, sah er, wie ein Angreifer einem Stammesmitglied die Hände abschneiden wollte. "Es war wie ein Lynchmord" , sagt Serejo noch sichtlich geschockt. Inzwischen wurde er operiert, eine Kugel traf ihn in den Kopf.

Drei weitere Mitglieder seiner Gemeinschaft sind noch im Spital, 33 Indigene wurden bei dem Angriff verletzt. Eine Gewehrkugel zerfetzte einen Lungenflügel von José Aldeli, bei seinem Bruder wurden beide Hände halb abgetrennt. Anderen Ureinwohnern wurden Beine und Knie durch Stockschläge gebrochen, berichtet das Landpastoral (Pastoral da Terra) nach dem blutigen Überfall auf das Volk im Amazonas-Bundesstaat Maranhão.

1500 gewaltsame Konflikte

Rund 200 von Großgrundbesitzern angeheuerte Schläger und aufgestachelte Landarbeiter hatten sich Ende April mit Mopeds zu den Hütten der Gamela aufgemacht. Laut Augenzeugenberichten war sogar eine Patrouille der Polizei in der Nähe, die aber nicht eingriff. Es war nicht das erste Mal, dass die Gemeinschaft brutal überfallen wurde. Landkonflikte werden in Brasilien immer grausamer ausgetragen.

Allein im vergangenen Jahr gab es landesweit mehr als 1500 solcher gewaltsamen Konflikte, wie das Landpastoral bestätigt. 61 Menschen kamen dabei um, in den vergangenen zehn Jahren wurden mehr als 600 Ureinwohner getötet. Mit am schärfsten sind die Auseinandersetzungen in Maranhão, dem ärmsten Bundesstaat Brasiliens.

Weit entfernt von Metropolen

Aber die brasilianischen Medien lenken selten die Aufmerksamkeit auf die Übergriffe, die weit entfernt von den Metropolen stattfinden. Die Behörden ermitteln ohnehin in den seltensten Fällen, meistens gehen die Täter straffrei aus. Dass es dieses Mal anders ist, liegt vor allem an den Indigenen, die beim Landpastoral und bei internationalen Organisationen Hilfe gesucht haben. Schnell wird klar, dass die Gewalt gegen die Gamela stellvertretend für eine Politik steht, in der die Ureinwohner Brasiliens jeglichen Schutz verloren haben.

Beobachter sprechen von einer angekündigten Tragödie. Vor mehr als zwei Jahren stellte der Stamm bei der Indigenen-Behörde Funai einen Antrag auf Rückgabe von Land, das in den 1980er-Jahren illegal von Großgrundbesitzern besetzt worden war. Doch bis heute ist nichts geschehen. Die Gamela entschlossen sich daraufhin, sich auf dem Land – rund 530 Hektar – mit 700 Familien anzusiedeln. Dabei vertrieben sie allerdings andere Kleinbauern, die mit dem Land ihre Familien versorgen mussten. Plötzlich standen einander arme Landarbeiter und Ureinwohner als unversöhnliche Feinde gegenüber.

Politik für Großgrundbesitzer

"Der Konflikt konnte nur so grausam werden, weil die Regierung nicht handelt", sagt Cleber Buzatto, Generalsekretär des Indigenen-Missionsrats Cimi. Weder den Ureinwohnern werde ihr rechtmäßiges Land zurückgegeben noch gebe es eine Agrarreform für landlose Bauern. Die Agrarlobby stelle die größte Fraktion im Kongress und mache eine Politik für die Großgrundbesitzer. So werden Gesetze beraten, die die Schutzzonen für Indianergebiete aufweichen und Abholzungen im Amazonas ausweiten sollen.

Der Indigenen-Behörde Funai – laut Verfassung für den Schutz der Ureinwohner zuständig, die weniger als ein Prozent der brasilianischen Bevölkerung ausmachen – wurde von der neuen rechtsliberalen Regierung unter Michel Temer der Haushalt um 44 Prozent gestrichen. Damit ist sie de facto handlungsunfähig, wie ihr Chef Antônio Fernandes Costa betont. Nach dem Überfall auf die Gamela erneuerte der evangelikale Pastor seine Kritik – und wurde wenig später überraschend entlassen. "Das Agrarbusiness ist dabei, die Kontrolle zu übernehmen. Brasilien muss endlich aufwachen. Das Volk wird betäubt", empörte sich Costa daraufhin bei einer spontan einberufenen Pressekonferenz.

"Brasilien durchlebt die kritischsten Momente seit seiner Demokratisierung", sagt Márcio Santilli vom Instituto Socioambiental, der elf Jahre die Indianerbehörde Funai führte. Im vergangenen Jahr sei in keinem einzigen Fall Stammesland an die Ureinwohner zurückgegeben worden. "Die Regierung hat komplett versagt. Landkonflikte werden zunehmen", sagt Santilli. (Susann Kreutzmann aus São Paulo, 16.5.2017)