Das Treffen des neuen französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron mit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel könnte viel mehr bedeuten als eine protokollarische Feierstunde der deutsch-französischen Freundschaft. Es geht in Europa heute nicht mehr um "links gegen rechts", sondern um ein demokratisches Europa gegen die autoritäre Versuchung, um Offenheit und Toleranz gegen Abschottung und Fremdenfeindlichkeit. Das Wunder Macron könnte in der Tat, wie die reißerische Schlagzeile der "Spiegel"-Geschichte lautet, "Europa retten", wenn man auch die Unterstellung im zweiten Teil, " ... und Deutschland soll zahlen", zu Recht zurückweist. Man muss daran erinnern, dass Finanzminister Wolfgang Schäuble, der zweitwichtigste Politiker Deutschlands, vor der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen sagte: "Wäre ich Franzose, würde ich wohl Macron wählen."

Alle geschichtliche Erfahrung bestätigt es, dass man das Mögliche nicht erreichte, wenn nicht immer wieder in der Welt nach dem Unmöglichen gegriffen worden wäre." Diese Worte Max Webers aus seiner oft zitierten "Politik als Beruf"-Rede, gehalten am 28. Januar 1919, charakterisieren auch den unglaublichen Erfolg des 39-jährigen Macron, der fünf frühere Präsidenten und Regierungschefs während seines Aufstiegs besiegt hat. Sein Sieg hat nicht nur Frankreich, sondern auch Europa vor einer Katastrophe gerettet. Ob nun seine Bewegung LRM (La République en Marche) bei den kommenden Parlamentswahlen eine Mehrheit erringen kann, hängt auch vom Verständnis und von der Hilfsbereitschaft der Bundeskanzlerin ab.

Angela Merkel befindet sich in einer außergewöhnlich starken Position nach der unerwarteten Siegesserie ihrer Partei. An ihrem 4192. Arbeitstag als Kanzlerin traf sie am Montag den vierten und wohl ungewöhnlichsten Präsidenten ihrer Amtszeit. Doch hängt ihre Zukunft von den Wahlen im September ab. In diesem Sinne geht es auch für die erfolgreichste deutsche Politikerin um eine Gratwanderung zwischen ihren proeuropäischen Überzeugungen und den innenpolitischen Realitäten, nämlich der Abneigung von 64 Prozent der Deutschen gegen Finanzhilfe für gemeinsame Investitionen mit Frankreich.

Die Weichen für eine neue Initiative in der Europapolitik werden erst nach den deutschen Wahlen im September gestellt, aber eine Vorentscheidung fällt schon bei den französischen Parlamentswahlen im Juni. Eine der berühmtesten politischen Maximen Max Webers lautet: "Drei Qualitäten" vor allem machten den Politiker aus: "Leidenschaft, Verantwortungsgefühl, Augenmaß".

Angela Merkel kennt die Warnung Max Weber vor der Eitelkeit: "Die eitle Selbstbespiegelung in dem Gefühl der Macht, die Todfeindin aller sachlichen Hingabe und aller Distanz, in diesem Fall der Distanz sich selbst gegenüber." Wird Macron den Mut zur Unpopularität haben und ungeachtet der Tagespolitik europäische Initiativen setzen? Der Beweis steht natürlich noch aus. Eine charismatische Führungspersönlichkeit in einer parlamentarischen Demokratie kann nur so lange die Widersprüche dieser Position aufheben, wie er (oder sie) sich durch Wunder und Erfolge "bewährt". (Paul Lendvai, 15.5.2017)