Bild nicht mehr verfügbar.

Ein Transvestit in Chueca: Der Stadtteil gilt als Schwulenviertel, in dem viele schicke Cafés und Geschäfte entstanden sind.

Foto: Getty Images/Gonzalo Arroyo Moreno

Bild nicht mehr verfügbar.

Federico García Lorca ist kurz nach Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs wegen seiner sexuellen Orientierung ermordet worden. Eine Statue in Madrid erinnert an den Lyriker und Dramatiker.

Foto: Gonzalo Arroyo Moreno/Getty Images

Bild nicht mehr verfügbar.

Der High-Heels-Lauf der Männer während des Gay-Pride-Festivals in Madrid.

Foto: Getty Images/Anadolu Agency/Evrim Aydin

Das Rathaus von Madrid mit Regenbogenfahne

Foto: Getty Images/iStockphoto/rmbarricarte

Bild nicht mehr verfügbar.

Foto: Getty Images/milachirolde

"Visit Chueca" steht auf einem bunten Faltblatt, das derzeit in vielen Bars und Restaurants in Madrid ausliegt. Fotos von Männern mit Waschbrettbauch und gestählten Brustmuskeln, in Tangas oder Lederhosen, dazwischen Kleinanzeigen für dies und das, Sexshops, Fetischbars, Gleitmittel. Im Stadtteil Chueca scheint die Sünde zu leben. Benannt ist er nach einem Platz, der den Namen des Komponisten Federico Chueca trägt. Der Musiker lebte im 19. Jahrhundert, heute kennt ihn kaum mehr jemand.

Chueca ist das Schwulenviertel Madrids, und als solches wird es jetzt wieder kräftig beworben. Denn dort wird ab Ende Juni die bislang weltgrößte Veranstaltung für Angehörige des LGBTI-Kollektivs (lesbisch, schwul, bisexuell, transsexuell oder transgender und intersexuell) stattfinden. Drei Millionen Besucher werden zur fünften World-Pride-Parade erwartet. Seit dem Jahr 2000 wird sie in verschiedenen Städten und in unregel mäßigen Abständen gefeiert. Bei den Umzügen ver binden Angehörige sexueller Minderheiten ihren Kampf für Gleichberechtigung mit dem Ausdruck von Lebens freude, Selbstdarstellung und Provokation.

Megaevent

Madrid wird seine Einwohnerzahl wohl verdoppeln. Es ist der größte Event, den die spanische Hauptstadt jemals ausgerichtet hat. Berta Cao ist im Rathaus für die Vorbereitung zuständig. Sie und ihr Team bewältigen die Aufgabe mit Schicksalsergebenheit und vielen Arbeitsstunden. "So was hat es in Spanien noch nicht gegeben", sagt die Aktivistin und Expertin für Gleichberechtigungspolitik mit tiefer Stimme, "nicht mal bei der Olympiade 1992 in Barcelona." Cao steht seit 30 Jahren den Gruppen nahe, die den Megaevent organisieren, allen voran die Selbsthilfegruppe Cogam (Madrider Kollektiv der Lesben, Schwulen, Trans- und Bisexuellen). Ohne Cogam wäre die Megaparty nicht möglich, weder logistisch noch gesellschaftlich.

Vor 41 Jahren wurde in Spanien erstmals der Christopher Street Day begangen, der hier Fiesta del Orgullo Gay oder kurz Orgullo (Stolz) heißt: Am 28. Juni 1976 war Diktator Francisco Franco gerade sieben Monate tot, die erste demokratische Verfassung war noch nicht entworfen. Homosexuelle wurden diskriminiert, Lesben überhaupt nicht wahrgenommen. Prominentes Beispiel für die jahrzehntelange Unterdrückung unter Franco ist der Dichter Federico García Lorca.

Zentrum der Repression

Er wurde im August 1936, kurz nach Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs, erschossen, weil er "Sozialist, Freund wichtiger Intellektueller, Freimaurer und Homosexueller" war, wie es in einem Polizeibericht von damals steht. García Lorcas Ermordung wurde während der Diktatur totgeschwiegen und ist bis heute ungeklärt. Menschen mit abweichender sexueller Orientierung galten als gesellschaftliche Gefahr. Bis 1978 war das Gesetz gegen "Nichtstuer und Bösewichte" (Vagos y maleantes) in Kraft, das Homosexuelle mit Zuhältern oder Berufsbettlern gleichsetzte und sie mit Gefängnisstrafe bedrohte. Madrid war das Zentrum der Repression.

Diesen Sommer will die Hauptstadt binnen zehn Tagen zwei Milliarden Euro an Schwulen, Lesben, Transsexuellen und anderen Besuchern verdienen, wenn sie kommen, um zu feiern, zu genießen und auch zu demonstrieren, für Menschenrechte und Inte gration. Die Party ist so groß, dass sie nicht mehr ins Schwulenviertel Chueca passen wird. Das besteht nur aus ein paar Straßenzügen zwischen der Gran Vía, der Calle Barquillo und der Calle Hortaleza. Die Straßen sind eng und kopfsteingepflastert, die meisten mehrstöckigen Häuser wurden im 19. Jahrhundert gebaut.

Bunteste Metrostation

Begrünte Plätze, kleine Geschäfte, Straßencafés, Markthallen, Fußgängerstraßen, Menschen zu fast allen Tageszeiten, all das macht Chueca unwiderstehlich. Das Quartier ist bunt, nicht nur wegen der Regenbogenfähnchen, die an Balkongeländern stecken oder in Schaufenstern hängen. Es liegt im Herzen der Stadt und ist nicht zu verfehlen. Wer mit der Metro kommt, steigt einfach in Chueca aus, Madrids buntester Metrostation: Die Wände sind mit Regenbogenfarben lackiert.

Dieses Spektrum wird vom 23. Juni bis 2. Juli auch auf Prachtboulevards, Museumsmeilen und wichtigen Plätze zu sehen sein. Bunte Fahnen werden in Parks flattern, diese sollen mit Aktivitäten für Kinder und deren Eltern gefüllt werden, viele davon gleichgeschlechtlich. Ausstellungen, Konzerte, ein Stadtlauf und eine internationale Menschenrechtskonferenz an der Universität sind geplant. "Madrid ist eine sehr tolerante Stadt", sagt Berta Cao, die selbst in den 1980er-Jahren aus Galicien in die Hauptstadt gezogen ist. "Hier darf jeder sein, wie er ist."

Mut machen

Spanien hat einen rasanten Wandel durchgemacht, von der Diskriminierung zu einem der fortschrittlichsten Länder in Sachen Gleichstellung. Jesús Grande, Vorsitzender von Cogam, hat dafür eine Erklärung. "Wir sind Hand in Hand mit der Gesellschaft gegangen", erzählt er in seinem Büro in Chueca. Damals, nach Francos Tod, in den ersten Jahren der Demokratie, waren die Schwulen die Ersten, die demonstrierten, und mit ihnen schrille Transvestiten, "die damals noch als Abschaum galten". Man habe anderen Gesellschaftsgruppen Mut gemacht, erzählt der 50-jährige Aktivist, "denn irgendwie hatte damals jeder einen Grund zu demonstrieren". Als 2005 die gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert wurde, waren 72 Prozent der Spanier dafür.

Heute gilt der Kampf den Anliegen der Transsexuellen: In Regionen wie Madrid oder Andalusien zahlt bereits das öffentliche Gesundheitswesen für Geschlechtsumwandlungen. Doch es gebe noch viel zu tun, sagt Grande. "Transsexuelle stehen ganz unten", sagt er. "Sie sind die Ersten, die entlassen, und die Letzten, die eingestellt werden."

Keine Lust auf Party

Sílvia Hernández, 43-jährige transsexuelle Frau aus einem Dorf südlich von Madrid, leidet unter Diskriminierung. Sie war vor ihrer Hormonbehandlung selbstständige Innenausstatterin, jetzt lebt sie mittellos in einer Madrider Obdachlosenunterkunft. "Meine Kunden haben einfach nicht mehr angerufen", sagt sie mit tiefer Stimme, "als sie bemerkten, dass ich zur Frau wurde." Sílvia wird bei der World-Pride-Parade mitmachen, auch wenn sie keine Lust auf Party hat. Ihr ist es wichtig, aufzuklären, vor allem junge Leute aus der Provinz.

Hernández ist aktives Mitglied bei Cogam, wo sie zu einer der Gruppen zur Sichtbarmachung sexueller Vielfalt gehört. Einmal die Woche fährt sie in Kleinstädte oder Dörfer außerhalb von Madrid und hält Workshops in Schulen ab. In der Gruppe "gibt es von allem etwas", sagt sie lachend, "einen Schwulen, eine Lesbe, einen Bisexuellen und mich". Haben die Schüler Vertrauen gefasst, beginnen sie das zu fragen, was sie schon immer wissen wollten. "In den Dörfern gibt es kaum Aufklärung und wenig Toleranz", erzählt Sílvia, "die meisten Betroffenen ziehen, sobald sie können, nach Madrid."

Lebensfreude statt schlechten Ruf

Die Stadt nimmt sie alle auf. Mittlerweile würden Schwule in vielen Stadtteilen leben, sagt Jesús Grande. Chueca ist teuer geworden, auch wegen der Trends, die Homosexuelle hier seit den 1990er-Jahren setzen. Internationale Restaurants, Dekogeschäfte, Nachtklubs für Heteros und Homos beleben das Viertel, und auch Tattoostudios, Sexshops und Darkrooms. Kaum mehr alteingesessene Geschäfte sind zu sehen. Trotzdem sind die meisten Anwohner zufrieden. "Als wir in den 1980er-Jahren hierherzogen", erzählt Grande, "war das Viertel voller Fixer und Dealer." Die Leute trauten sich nach 22 Uhr nicht mehr auf die Straße.

Der schlechte Ruf zog Schwule damals an, erinnert sich Grande. Die meisten lebten ein Doppelleben, in Chueca fühlten sie sich sicher. "Hier bist du weder deiner Mutter noch deinen Arbeitskollegen über den Weg gelaufen," sagt er. Kaum zu glauben, bei all der Lebensfreude, die Chueca heute versprüht. (Brigitte Kramer, RONDO, 21.5.2017)