Michael Thalheimer im Akademietheater: Nachgrübeln über Mitleid mit dem Feind als Antriebskraft.

Foto: Robert Newald

STANDARD: Ab 490 vor Christus wehrt Griechenland zweimal eine Bedrohung durch persische Aggressoren ab. Wenige Jahre nach der Seeschlacht bei Salamis beschreibt Aischylos die persische Katastrophe aus Sicht der Verlierer. Was hat ihn zur Umkehrung der Blickrichtung bewogen? Wollte er bei den griechischen Zuschauern Triumphgefühle neu beleben?

Thalheimer: Ich kenne diese von Philologen vertretene These, und ich halte sie für falsch. Ganz einfach deswegen, weil sie schlichtweg zu einfach ist. Ich habe mich auch nicht für die philologisch wortgetreue Übersetzung Emil Staigers entschieden, sondern für etwas Dichterisches, für den zeitgenössischen Autor Durs Grünbein. Sein poetischer Zugang erleichtert es uns erst einmal, diese sperrige Geschichte sinnlich nachvollziehbar zu erleben. Wir sind hier am Theater keine Universität. Wir wollen nicht belehren, sondern etwas sinnlich erfahrbar machen.

STANDARD: Warum stimmt Staigers These von der Neubelebung des griechischen Triumphs nicht?

Thalheimer: Er setzt voraus, dass die griechische Polis zwei Jahre nach dem triumphalen Sieg gegen die Perser – die Geburtsstunde Europas aus heutiger Sicht! – derselben Hybris unterliegt wie wir heute. Das wäre aber blanker Zynismus. Das Jubelgeschrei bedeutete Häme. Es wäre nichts anderes als die erneute Freude über den Schaden der anderen.

STANDARD: Schließt das Mitleid mit den Unterlegenen aus?

Thalheimer: Zynismus schließt Mitleid gänzlich aus. Zynismus tut, als hätte man die Welt verstanden und könnte alles kontrollieren. Als stünde man über den Dingen! Damit entfernt man sich weit von jeder Empathie. Die Perser sind aus unendlich vielen Gründen reizvoll für mich als Regisseur; aber ich glaube, dass Empathie einzufordern ist.

STANDARD: Inwiefern?

Thalheimer: Die Geschichte schreibt immer der Sieger, nie der Verlierer. Der Verlierer hat nichts zu schreiben, er hat auch niemanden, der ihm zuhört. Jetzt gibt Aischylos den verlustreichen Persern eine Stimme. Er schreibt als Sieger aus der Sicht der Verlierer und präsentiert das in Athen den Zuschauern, die sich zu Recht als Sieger fühlen dürfen. Aber er fordert nicht Schadenfreude oder erneutes Triumphgeschrei, sondern Mitleid, Empathie, Verständnis – und es steckt eine ernste Warnung dahinter ...

STANDARD: An die eigene Adresse?

Thalheimer: Wenn man zynisch-hybrid ist und meint, dass der Erfolg einen dazu berechtigt, anmaßend zu denken, dann wird einem früher oder später dasselbe passieren wie den gedemütigten Persern. Dieser Perspektivenwechsel ist einmalig in der ganzen Literaturgeschichte. Eine Geburtsstunde des Theaters, sein ältester überlieferter Text.

STANDARD: Eine pädagogische Schulung? Die Tragödie als Einrichtung des Gemeinwesens, um auf nutzbringende Weise Psychohygiene zu treiben?

Thalheimer: Wobei natürlich beide Wörter unglaublich besetzt sind, Pädagogik wie Hygiene. Pädagogik ist furchtbar missbraucht worden, das klingt heute nach alten Socken. In den Persern ist das viel klüger und schärfer gemeint.

STANDARD: Der Chor der Perser wartet nichtsahnend auf gute Nachrichten vom Schlachtfeld. Aischylos schwelgt geradezu in persischen Heroennamen, echten wie erfundenen. Warum macht er das?

Thalheimer: Er will eine Kontrastwirkung zu den Griechen erzeugen. Aischylos wird kaum alle Führer im Heer des Gegners mit Namen gekannt haben. Es spielt auch keine Rolle, ob es sie wirklich gegeben hat. Es macht einen Unterschied für den Zuhörer, ob er eine Zahl von Opfern hört oder ob er Namen genannt erhält.

STANDARD: Man verwandelt das Kriegsbulletin, den Heeresbericht in etwas Konkretes?

Thalheimer: Eine Zahl bleibt anonym. Was heißt es, wenn man gesagt bekäme, 1,5 Millionen Perser sind gestorben? Wir sind durch zu viele Nachrichten abgehärtet worden, durch zu viele Katastrophen. Wir werden dadurch tendenziell empathielos; ich meine mich damit auch selbst. Vielleicht kann ich auch gar keine Haltung mehr zu den Geschehnissen einnehmen, weil ich überfordert bin.

STANDARD: Der Schichtbelag der Seele?

Thalheimer: Die Anonymität der Zahlen löst nichts mehr aus. Erst durch die Wiederholung der Namen wird klar, hier handelt es sich um Menschen, die geliebt wurden et cetera. Das rückt sie uns näher.

STANDARD: Aischylos bietet sogar den Schatten des Perserkönigs Dareios auf ...

Thalheimer: Erstaunlich, weil er den Perspektivwechsel gänzlich vollzieht. Man bekommt das Gefühl, die Katastrophe aus Sicht der Perser zu erleben. Er benutzt ja sogar denselben Himmel, denselben Olymp. Die Perser sprechen Zeus an! Er implantiert die eigene Kultur bei den Persern, damit die Zuschauer merken: Es gibt da keinen Unterschied, Mensch bleibt Mensch. Und wir erleben diese Menschen im Augenblick des Totalverlustes ihrer Kultur.

STANDARD: Xerxes taumelt besiegt nach Hause. Doch worin besteht die Rolle seines Vatergespenstes?

Thalheimer: Aischylos lässt Dareios etwas ganz Besonderes sagen: Führt niemals mehr Krieg gegen Griechenland! Er sagt auch: Wenn Sohn Xerxes zurückkehrt, setzt ihm zu mit Vernunft! Sagt ihm, ihr braucht einen weisen Führer! Wenn ich das heute höre, dann weiß ich dringlich: Genau das brauchen wir. Wir spüren, dass die Welt mehr als nur aus den Fugen ist. Es gibt eine Verunsicherung, die an die Tiefen der Existenz rührt. Wir müssen uns selbst und den anderen mit Vernunft zusetzen! Und: Wir brauchen weise Führer! Wir sind von solchen weisen Führern aktuell Lichtjahre entfernt. (Ronald Pohl, 18.5.2017)