Else Jerusalem, "Der heilige Skarabäus". € 25 / 612 Seiten. DVB-Verlag, Wien 2016

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Die heute großteils vergessene Autorin Else Jerusalem (1876-1943) machte sich in Wien kurz vor dem Ersten Weltkrieg durch zwei Skandale einen Namen: erst durch ihren einzigen Roman Der heilige Skarabäus, angesichts dessen sich die Zeitgenossenschaft fragte, woher wohl diese gutbürgerliche, verheiratete Frau ihre profunde Sachkenntnis über Prostitution bezogen haben möge. Dann durch ihre Scheidung und Wiederverheiratung mit einem anderen Mann, dessen Ex sich daraufhin umbrachte.

"Man wollte sie sich in Wien nicht mehr gefallen lassen und bewarf sie schließlich nicht nur mit Blicken und Worten", schreibt der Führer durch die deutsche Literatur des 20. Jahrhunderts von 1913 vielsagend – doch da war die Autorin schon längst nach Argentinien ausgewandert. Von da an verliert sich zusehends ihre Spur.

Der für einen Dirnenroman reichlich seltsame Titel von Jerusalems – später verfilmtem – Romanerstling verweist auf den Mistkäfer, der ihrer Protagonistin Milada im Puff quasi als Totemtier nahegelegt wird. Als geduldeter "Bangert" der "Schwarzen Katerine", einer böhmischen Sexarbeiterin, wächst sie auch in jenem "Rothaus" auf und wird offenkundig selbst in die Profession eingeführt, bevor sie sich zur Wirtschafterin des Traditionsbetriebs hinaufgearbeitet hat – als rechte Hand ihrer Chefin.

Eine Liebesgeschichte mit der eitlen wie fahrlässigen Laufkundschaft Gust kann sie auch dabei nicht aus der Bahn werfen. Am offenen Ende des Romans sehen wir Milada mit ihrem zusammengesparten Vermögen ein Asyl für die unehelichen Kinder ihrer Kolleginnen bzw. für diese selbst in den österreichischen Alpen bauen. Glaube, Buße und Caritas spielen eine große Rolle, und so geht auch eine der drei beschriebenen Puffmütter schlussendlich ins Kloster.

Ein weiterer wichtiger sozialhistorischer Hintergrund dürfte der Wiener Skandalprozess gegen die Bordellbesitzerin und Menschenhändlerin Regine Riehl von 1906 gewesen sein, der auch Karl Kraus bleibend beeindruckte, nachzulesen in seiner Sammlung Sittlichkeit und Kriminalität. Jerusalems Text lässt sich aber ebenso als eine Art Gegenentwurf zu einem der berühmt-berüchtigtsten Dirnenromane der Wiener Jahrhundertwende lesen, der 1906 anonym erschienenen Josefine Mutzenbacher. Wie diese ist er nämlich eine Art pervertierter Bildungsroman seiner Protagonistin wie auch der anderen Huren und Puffmütter, deren psychosoziales Profil ausgebreitet wird.

Einsichten in das Milieu

Während aber die Mutzenbacher ein fröhliches Kinderporno-Ballett ist, das Menschen zu bloßen Benutzeroberflächen für unermüdliches Kopulieren reduziert, widmet sich Jerusalem ausführlich dem Elend und Missbrauch der Mädchen ebenso wie der Geldgier und Gewalttätigkeit derer, die sie ausbeuten. Und so gibt es eben auf den beinahe 550 Seiten des Romans tatsächlich keine einzige Sexszene.

Trotzdem erweist sich Der heilige Skarabäus als interessanter Fund, der voller Einsichten in das Milieu um 1900 ist, die keineswegs rein fiktiv zu sein scheinen. Es ist freilich die Darstellungsweise, die sich in mehrfacher Hinsicht als problematisch zeigt: Einerseits reproduziert die Vermittlung des Ekels, den die Sexarbeit bei den Huren wie ihren Kunden (immer?) auslöst, diese Abscheu, generalisiert sie und wird dadurch unterschwellig moralinsauer – auch wenn es um den Akt selbst geht und nicht nur seinen menschenunwürdigen Verkaufsrahmen.

Dies trägt nolens volens zur Stigmatisierung jener Frauen bei, zu deren Advokat sich der Roman eigentlich aufschwingen möchte, wenn er die Sexarbeit untrennbar mit dem Wesen der bürgerlichen Gesellschaft verwachsen sieht: Sie werde erst verschwinden, wenn "die Entwicklung der Geschlechter jene reine Höhe erreicht hat, die allein vulgäre Prostitution überflüssig machen kann."

Wie schon aus diesem Zitat ersichtlich, ist Jerusalems Halbwelt andererseits auch geschwollen und schwatzhaft, was in überbordenden Dialogen wiedergegeben wird. Dies hat einen gewissen Charme, wenn längst ausgestorbene Perlen der Wiener Sprache quasi vor die Freier geworfen werden – allerdings gestaltet sich die Lektüre der umständlich langen Dialektpassagen doch einigermaßen anstrengend. Ein beachtliches Talent zur Beobachtung gleitet so in nestroyisierende Gespreiztheiten, im schlechten Fall jedoch in Kolportage ab.

Hier hat ein Lektor gefehlt, der gleichsam als Puffmutter die Ökonomie des Erzählten besser im Auge behalten hätte – und so bleibt denn auch bei aller Bedenklichkeit Josefine Mutzenbacher der wohl besser geschriebene und humorvollere Text.

Dies tut freilich der historischen Bedeutung von Jerusalems Roman neben Magarete Böhmes Tagebuch einer Verlorenen (1905) keinen Abbruch, ebenso wenig wie dem exzellent recherchierten Nachwort von Brigitte Spreitzer. Nicht zu vergessen, dass all dies das Verdienst des kleinen Wiener Verlags der vergessenen Bücher (VDB) ist, von dem man sich noch etliche Wiederentdeckungen erwarten darf. (Clemens Ruthner, Album, 24.5.2017)