Fischler hält große Stücke auf Kurz. Doch mit dem ersten Misserfolg werde auch er angezählt sein wie seine Vorgänger.

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STANDARD: Hat Sie der Rücktritt Reinhold Mitterlehners vergangene Woche überrascht?

Fischler: Nicht dem Inhalt nach, aber vom Zeitpunkt her. Ich glaube, das war eine spontane Entscheidung, die nicht von langer Hand vorbereitet war.

STANDARD: War die Kritik an der ÖVP, die Mitterlehner in seiner Abschiedsrede durchblicken ließ, gerechtfertigt?

Fischler: Ja, denn erstens hat ihn die Partei schlecht behandelt. Und zweitens ist es in den vergangenen Jahren von denen, deren Macht Sebastian Kurz jetzt zurückzudrängen versucht, eindeutig übertrieben worden. Allen voran der niederösterreichische Landeshauptmann, aber auch einige andere Herren haben von Länderseite her wirklich so getan, als ob es ihnen wirklich egal wäre, wer unter ihnen Bundesregierung ist. Ganz so, wie es in einem Gespräch zwischen Pröll und Häupl einmal gesagt wurde. Das sagt einiges aus über den Zustand der österreichischen Demokratie.

STANDARD: Wird Sebastian Kurz diese Macht der Länderchefs nun brechen können?

Fischler: Sebastian Kurz ist derzeit ohne Alternative für die ÖVP. Vom Demokratiestandpunkt aus ist es nur zu begrüßen, dass er nun die Chance nutzt, die sich ihm bietet, um zumindest einmal als Ansage eine echte nationale Partei aus der ÖVP zu machen, in der die nationalen Angelegenheiten auch von der Bundespartei entschieden werden.

STANDARD: Sehen Sie ähnlichen Reformbedarf wie bei den Ländern auch bei den Bünden gegeben?

Fischler: Nicht im selben Ausmaß, aber es ist bei den Bündeobleuten schon ähnlich. Doch das eigentliche Problem sind die Länder. Wobei es diese Debatte genau genommen schon seit 70 Jahren gibt. Denn der erste Generalsekretär der ÖVP 1945, Felix Hurdes, hat genau diese Punkte, die Kurz nun als Kompetenzen für den Bundesparteiobmann verlangt, in das damalige Parteistatut geschrieben. Und er ist damit kläglich untergegangen.

STANDARD: Und Sie sehen nun tatsächlich die Chance, diese verfestigten Machtstrukturen in der ÖVP aufzubrechen?

Fischler: Die Chance ist da, und sie ist größer, als sie in den vergangenen Jahrzehnten je war. Das hängt mit mehreren Faktoren zusammen. Einerseits wird Kurz als einzige Lichtgestalt für die Zukunft der ÖVP gesehen. Andererseits sind einige der dominanten Landeskaiser kürzlich abgetreten, und deren Nachfolger können ihre Macht noch nicht im selben Maße entfalten. Ein dritter Faktor ist, dass die Sozialpartnerschaft deutlich schwächer geworden ist, als sie noch zu Zeiten eines Sallinger und eines Benya war. Zudem hat die Bevölkerung genug vom bestehenden System. Der erste Wahldurchgang der Bundespräsidentschaftswahl war dafür ein Menetekel, das war eine Bankrotterklärung für die beiden Regierungsparteien.

STANDARD: Sie nennen Sebastian Kurz die einzige Lichtgestalt der ÖVP. Ist das nicht ein Armutszeugnis für die Partei, nicht mehr Zukunftshoffnungen in petto zu haben?

Fischler: Das kann man so sehen, aber es ist ein Faktum. Man kann nun zwar den Vorwurf erheben, warum nicht rechtzeitig mehr Hoffnungsträger aufgebaut wurden. Aber das ist ein Phänomen, das auch in anderen modernen Demokratien zu beobachten ist. Wenn man nach Frankreich blickt oder nach Deutschland, wie dort Angela Merkel seinerzeit an die Macht gekommen ist. Da gibt es derzeit große Umwälzungen in den westeuropäischen Gesellschaften.

STANDARD: Sebastian Kurz will die Länder und Bünde entmachten. Zugleich baut er die Junge Volkspartei (JVP) zum neuen Machtfaktor innerhalb der Partei auf. Wie beurteilen Sie das?

Fischler: Ich glaube, man muss hier erst ein neues System entwickeln. Der erste Schritt ist nun, dass er sich freispielt und versucht, die schweren Gewichte an seinen Armen und Beinen loszuwerden. Man kann auch sagen, er versucht einen Befreiungsschlag. Das ist natürlich mit Risiken verbunden. Das kann auch völlig schiefgehen. Aber es ist eine Chance, die man nutzen sollte.

STANDARD: Und was passiert, wenn das Experiment Kurz tatsächlich schiefgeht?

Fischler: Dann wird die ÖVP zerfallen. Ähnlich wie die Democrazia Cristiana in Italien. Man muss da aufpassen und darf nicht nur nach Deutschland schauen, wo es mit der CDU/CSU noch eine starke traditionelle Rechts-der-Mitte-Partei gibt. Aber in den meisten anderen Ländern, von Schweden bis Frankreich, sind diese Parteien gar nicht mehr existent. So gesehen stehen wir in Österreich an einer Wegkreuzung. Entweder wir schaffen es, uns in Richtung CDU zu entwickeln, oder wir werden den Weg gehen, den viele andere schon gegangen sind.

STANDARD: Es droht Ihrer Meinung nach also wirklich das Ende der ÖVP?

Fischler: Na ja, man muss das präzisieren. Was heißt "das Ende der ÖVP"? Es ist durchaus denkbar, so wie das in anderen europäischen Ländern der Fall ist, dass dann neue Bewegungen entstehen. Damit würde das politische Spektrum durch eine Vielzahl von Wahllisten noch mehr aufgesplittert. Zudem muss man die Länder- und Bundesebene unterscheiden. Nur weil die ÖVP auf Bundesebene zerfällt, heißt das nicht, dass das auch auf Länderebene passiert. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass die ÖVP in Ländern wie Tirol oder Niederösterreich mit Unterstützung der regionalen Kräfte und der Bürgermeister weiter den Landeshauptmann stellt. Nur auf Bundesebene wird das eben nicht mehr funktionieren.

STANDARD: Was muss die ÖVP tun, um diesem Schicksal zu entrinnen?

Fischler: Der innerparteiliche Entscheidungsprozess muss überdacht werden. Ebenso die Art und Weise, wie die Grundprinzipien der ÖVP gelebt und praktiziert werden. Da ist die alltägliche Praxis oft ziemlich weit weg von den eigenen Prinzipien.

STANDARD: Kurz steht nun vor großen Aufgaben: die tiefgreifenden Reformen in der Partei und die Neuwahlen im Oktober. Wie soll er das angehen?

Fischler: Eines nach dem anderen. Nun liegt der Fokus auf den Neuwahlen. Doch unmittelbar danach sollte man einige Pfosten einschlagen, um die Eckpfeiler einer möglichen künftigen Regierungsarbeit festzulegen. Die Entscheidungen darüber darf man nicht den Kammern, Gewerkschaften und Ländern überlassen. Dazu wird er sich Leute von außerhalb holen müssen. Davon kann er gar nicht genug haben. Es gibt viele Bürger, die sich gerne in inhaltliche Arbeit einbringen würden. Da sollte man ansetzen.

STANDARD: Sie plädieren also dafür, lieber auf Quereinsteiger zu setzen, als erfahrene Leute aus der Politik zu rekrutieren?

Fischler: Ich halte nichts von der in Österreich weitverbreiteten Meinung: Gibt der Herr das Amt, gibt er auch Verstand. Daher kann das nicht nur von innen aus der Politik kommen, sondern es muss hier die Expertise von außen dazukommen. Man braucht beides.

STANDARD: Demnach liegt der Fokus auf der Nationalratswahl im Oktober. Sehen Sie eine Chance für eine Neuauflage der großen Koalition gegeben?

Fischler: Da sehe ich die Chancen bei null. Ich glaube nicht an eine Neuauflage. Dazu haben sich diese beiden Parteien zu sehr auseinandergelebt. Es wird vom Wahlausgang abhängen und davon, wie es den kleineren Parteien ergeht. Mittlerweile schauen ja auch die Grünen wie eine Altpartei aus. Aber Spekulationen über mögliche Koalitionsvarianten wären jetzt Kaffeesudleserei.

STANDARD: Wurden Sie von Sebastian Kurz gefragt, in seinem neuen Team, das er nun zusammenstellt, eine aktive Rolle zu spielen?

Fischler: Eine Rolle in dem Sinn zu spielen, dass ich wieder in der Politik aktiv werde, ist ausgeschlossen. Das würde ich nicht machen, jetzt sollen einmal die Jüngeren ran. Aber ich treffe ihn von Zeit zu Zeit, und er hört mir zu. Das ist ja eine seiner Stärken. Er versteht es, Fragen zu stellen und nicht immer mit vorgefassten Meinungen aufzutreten.

STANDARD: Was braucht Kurz nun, um als ÖVP-Obmann länger bestehen zu können als seine Vorgänger?

Fischler: Er ist von Beginn an ein Risiko eingegangen und hat damit Erfolg gehabt. Nun braucht er ein gutes Team für die Wahl und die Zeit danach. Nur eines ist klar, das eiserne Gesetz in Österreich lautet: Er wird akzeptiert sein, solange er Erfolg hat. Aber ab dem ersten Misserfolg ist er wie alle seine Vorgänger angezählt. Daher wünsche ich ihm viel Erfolg. (20.5.2017)