Romeo Castelluccis "Democracy in America" im Wiener Volkstheater.

Foto: Guido Mencari

Wien – Alexis de Tocqueville zeigte sich vom demokratischen Geist der Amerikaner fasziniert. Anfang der 1830er-Jahre ließ sich der französische Adelige vom Geist der Mitbestimmung inspirieren. Den meinte er noch in den unscheinbarsten Regungen des Alltagslebens nachweisen zu können.

"Democracy in America" nennt sich auch das neueste Theaterrätsel des italienischen Regisseurs Romeo Castellucci. Man könnte dieses bildgewaltige, dabei jederzeit stille und nachdenkliche Spektakel auch als Einspruch deuten.

Jeder kulturbildenden Kraft, meint Castellucci, liegt ein Opfer zugrunde. Jedes Streben nach Glück beruht auf einem Gottvertrauen, das den Schöpfer in den Rang eines verantwortlichen Projektleiters erhebt. Nur jener Puritaner, der erfolgreich das eigene Fortkommen betreibt, darf auf Gottes wohlwollende Unterstützung rechnen. Doch auch dieser Schein trügt.

Ein Festwochen-Besucher von "Democracy in America" muss die Puzzlestücke, die Castellucci verstohlen auf die Bühne des Wiener Volkstheaters legt, schon selbst zusammensetzen. Appelliert wird an die Anwesenheit Gottes; und wie so häufig erweist es sich, dass über den Verbleib metaphysischer Instanzen heute keine kirchlich bestallten Sachwalter mehr wachen, sondern Künstler. Theatervisionäre wie Castellucci, die Verlustanzeigen aufsetzen und Probebohrungen in die kollektive Psyche unternehmen.

Der Abend beginnt mit einem akustischen Zeugnis von Glossolalie in Oklahoma City: Zungenrede aus Priestermund. Ein klappernder Zug von Mädchensoldaten hängt seine mit Buchstaben bestickten Fähnchen zu Wörtern zusammen. Voila: "Democracy in America". Aus dem Material der Lettern lässt sich aber auch heiterer Unfug stiften: "Ice Canada Memoir Cry". Am Anfang jeder Schöpfung steht das neu gebildete Wort.

Eine Frau schält sich aus dem Zug der Bacchantinnen, entkleidet sich, übergießt sich mit Blut. Ein Trapez sinkt aus dem Schnürboden herab. Elisabeth – so der Name der Puritanerin – peitscht mit ihren Haarsträhnen das Joch, das unter dem Klatschen des Schopfes zu singen anhebt.

Es klingt ein Lied in allen Dingen: Der (vergeblichen) Gottesbeweise gibt es viele in dieser atemberaubenden Produktion. Elisabeth wird anno 1789 ihre Tochter Mary gegen Saatgut und Pflug eintauschen – ein grämliches US-Echo auf Abrahams Opferung des Isaak. Sie wird den schweigenden Gott zur Rede stellen und – von Klu-Klux-Klan-Masken wie von Flammenspitzen umtanzt – die Fackel der Freiheit in eine unruhige Zukunft tragen.

Auf der Strecke bleiben Amerikas Ureinwohner, die wie die Schwarzen vom Glücksversprechen ausgeschlossen werden. Castellucci liefert dazu nicht "Fakten", sondern bewegte Bilder und philosophische Sketches. Windsäcke bilden halluzinatorische Zeichen, Urbuchstaben einer göttlichen Willensbekundung, die im Dröhnen von Scott Gibbons' Ambient-Musik wie folgenlos verweht. Amerika, du hast es nicht unbedingt besser. Europa aber, du hast einen szenischen Denker wie Romeo Castellucci. Der ist schon eine Menge wert. Irritierter Applaus. (Ronald Pohl, 24.5.2017)