Schweigeminute in Machester: Die Bürger der Stadt wollen sich von der Angst vor dem Terrorismus nicht unterkriegen lassen. Wegen der anhaltenden Polizeioperationen fällt das vielen schwer.

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Wie hunderte ihrer Mitbürger wollte auch Amina Lone den Opfern des Bombenanschlags in ihrer Stadt die Ehre erweisen und einen Blumenstrauß niederlegen. Doch überall waren Schnittblumen ausverkauft, erst im dritten Geschäft wurde die Sozialwissenschafterin (45) fündig. Die Szenerie am St.-Ann’s-Platz mitten in Manchester rührte sie zu Tränen. "Aber ich wollte nicht weinen. Wir reißen uns zusammen."

Nach dem Terroranschlag in Manchester hat die Polizei jetzt einen weiteren Verdächtigen festgenommen. Damit steigt die Zahl der Festnahmen auf zehn. Bei dem Anschlag am Montag wurden 22 Menschen getötet und 116 Menschen verletzt, weit mehr als bisher bekannt.
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Um 11 Uhr haben sich am Donnerstag wieder Hunderte am St.-Ann’s-Platz getroffen. In einer Schweigeminute gedenkt ganz Großbritannien der 22 Toten und über hundert Verletzten, die am späten Montagabend Opfer eines islamistischen Bombenanschlags wurden. Tags darauf wollten die Parteien den Unterhaus-Wahlkampf wieder aufnehmen, den sie unterbrochen hatten.

Langsam kehrt Manchester zu einer Art Normalität zurück. Am Freitagabend steigt auf dem Albertplatz ein internationales Leichtathletiktreffen, am Sonntag wollen tausende von Hobbyläufern am Halbmarathon durch die Stadt teilnehmen. "Das Leben muss ja weitergehen", sagt die Muslimin Lone. "Wir lassen uns unseren Lebensstil nicht nehmen." Da schaltet in der Nähe ein Krankenwagen seine Sirene an, und sie zuckt zusammen.

Manchester, am Tag drei nach dem Massenmord. Im Kinderkrankenhaus besucht die 91-jährige Königin Elisabeth II. Teenager. Das Konzert der US-Popsängerin Ariana Grande war gerade zu Ende, als der Selbstmordattentäter Salman Abedi (22) im Foyer der mit 21.000 Plätzen ausverkauften Mehrzweckhalle seine mit Nägeln gefüllte Bombe zündete.

An diesem Vormittag muss schon wieder eine wichtige Verkehrsader gesperrt werden, um eine Hausdurchsuchung zu ermöglichen. Tags zuvor war es die Hauptbahnlinie nach London gewesen. Die Jagd nach Abedis Hintermännern ist in vollem Gang. Die Kriminaler glauben nicht, dass der 22-jährige Uni-Abbrecher die vergleichsweise komplizierte Bombe selbst gebaut hat.

G7-Gipfel überschattet

Deshalb hat Premierministerin Theresa May am Dienstagabend mit ernster Miene verkündet, die Terrorbedrohung des Landes müsse nun von "ernst" auf "unmittelbar bevorstehend" hochgestuft werden. Ihren Besuch beim Gipfel der G7 in Sizilien, der heute, Freitag, beginnt, wird sie kürzer gestalten als ursprünglich geplant – obwohl der Terrorismus dort größer als bisher geplant auf der Tagesordnung stehen soll.

Die Polizei rekonstruiert derweil fieberhaft die letzten Tage und Wochen des in der Stadt geborenen Sohns libyscher Eltern. Das Haus der Familie Abedi in der Elsmore Road im Stadtteil Fallowfield stellen sie schon seit Dienstagmorgen auf den Kopf. Der Zugang zu den rund 50 Metern der Straße, an denen auch das Haus steht, bleibt abgeriegelt. Immerhin vermittelt der Augenschein den Eindruck, dass es keines jener Ghettos ist, die es auch im Großraum Manchester gibt. Wie aber wurde aus dem unauffälligen Schüler und Wirtschaftsstudenten Abedi ein Massenmörder? In Frankfurt sei er kürzlich gewesen, heißt es aus Ermittlerkreisen, in Libyen bei den Eltern sowieso. Seine letzte Heimreise führte aus der Türkei nach Manchester. Erhielt er zuvor im Bürgerkriegsland Syrien eine Terrorausbildung?

"Eine Frage der Zahlen"

Eines steht längst fest, wie Innenministerin Amber Rudd schon am Mittwoch einräumte: Abedi war kein unbeschriebenes Blatt. Von "fünf verpassten Gelegenheiten" schreibt der konservative Telegraph. Erst vor kurzem hatte laut Londoner Times ein naher Angehöriger bei den Behörden Alarm geschlagen. Abedis Eltern seien so besorgt gewesen, dass sie kurzfristig den Pass des 22-Jährigen konfiszierten. Erst als dieser von einer geplanten Pilgerfahrt nach Mekka berichtete, habe er das Reisedokument wieder bekommen.

Bereits fünf Jahre zurück liegen laut BBC die Warnungen zweier Jugendarbeiter: Sie meldeten sich bei der Terror-Hotline der Polizei und berichteten von Abedis Bewunderung für Suizidattentäter. Nichts geschah – damals nicht, in diesem Jahr nicht. Das sei eine Frage der schieren Zahlen, nimmt Londons früherer Polizeipräsident die aktiven Kollegen in Schutz: "Es gibt nicht genug Kapazität, und in Wahrheit kann es auch nie genug geben", sagt Ian Blair, der während der Massenmorde vom 7. Juli 2005 (52 Tote, hunderte Verletzte) im Amt war.

Streit um US-Leaks

Ian Hopkins, der Polizeipräsident von Manchester, trägt nüchtern die relevanten Fakten vor: Acht Männer sind an diesem Donnerstag in Haft, eine Frau wurde nach stundenlangem Verhör wieder entlassen. Ganz kurz geht der Polizeipräsident auch auf den transatlantischen Streit ein, der die Untersuchung von Manchester überschattet. Traditionell betreiben britische und amerikanische Geheimdienste einen engen Informationsaustausch auf der Basis, dass die relevanten Fakten geheim bleiben. Nicht so diesmal: Zunächst der Name des Täters, am Mittwoch sogar Fotos vom Tatort wurden US-Medien zugespielt. "Empörend" finden das Londoner Kabinettsmitglieder. May kündigte an, sie wolle am Rand des Nato-Gipfels US-Präsident Donald Trump zur Rede stellen. Der verurteilte in seiner Rede die Leaks.

Ian Hopkins jedenfalls hat bis auf Weiteres die Weitergabe von Informationen an die Amerikaner eingestellt. Mit seinen kurzen, klaren Statements zur Lage ist der Polizeichef ebenso zu einem Gesicht von Manchester geworden wie der erst zu Monatsbeginn gewählte Bürgermeister der Großregion Andrew Burnham. Der Labour-Politiker steht am Mittwochabend auf dem St.-Ann’s-Platz vor dem improvisierten Blumenschrein für die Opfer. "Wir lassen uns nicht unterkriegen", sagt er. "Wir stehen zusammen gegen den Terror, gemeinsam mit den 99,9 Prozent friedliebenden Muslimen unter uns. Die Terroristen wollen die Spaltung der Gesellschaft, aber wir lassen das nicht zu." (Sebastian Borger aus Manchester, 25.5.2017)