Die israelische Schriftstellerin Lizzie Doron: "Wir brauchen auch eine andere Sprache für die Tragödien beider Seiten."

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Lizzie Doron, "Sweet Occupation". Übersetzt aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler. € 17,40 / 204 Seiten. dtv 2017

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STANDARD: Frau Doron, welche Resonanz hat "Sweet Occupation" in Israel erfahren?

Doron: Es gibt keinerlei Resonanz in Israel. Das Buch wurde bisher nicht in Israel veröffentlicht und wird es wohl auch in Zukunft nicht.

STANDARD: Es wird nicht wahrgenommen?

Doron: Nein, es ist nach Who the fuck is Kafka? mein zweites Buch, für das ich keinen israelischen Verlag gefunden habe. Also gibt es auch keine Interviews oder Besprechungen.

STANDARD: Sie waren eine gefeierte Schriftstellerin in Israel. Was ist in der Zwischenzeit passiert?

Doron: Ob meine frühen Werke heute noch an Schulen gelesen werden, weiß ich nicht. An institutionellen Anlässen oder offiziellen Zeremonien wie dem Holocaust Memorial Day bin ich nicht mehr beteiligt. Ich stehe mehr im Dialog mit Lesern in Europa, vor allem in Deutschland, oder nehme an Konferenzen dort teil. Zum literarischen Leben in Israel gehöre ich nicht mehr.

STANDARD: In "Sweet Occupation" schildern Sie das Schicksal von drei ehemaligen palästinensischen Kämpfern und zwei Israelis, die den Dienst in der Armee verweigerten. Alle waren im Gefängnis und setzen sich heute für eine friedliche Lösung des Konflikts ein. Ist das Buch ein Roman? Oder ein journalistischer Bericht?

Doron: Es handelt sich um eine Arbeit zwischen den Genres. Ich bin keine Journalistin und dokumentiere nicht, meine Werkzeuge sind literarischer Art. Aber ich bin den Geschichten meiner Protagonisten gewissermaßen journalistisch gefolgt. Die Fakten stimmen. Gleichzeitig habe ich die Erlebnisse literarisch durchbrochen. Außerdem spreche ich offen über meine eigenen Gefühle, Ängste und Gedanken. Im Hebräischen äußert sich das auch in einer dialektalen Sprache. Ich hoffe, das funktioniert in der Übersetzung.

STANDARD: Diese zweite Ebene ist charakteristisch für Ihr Buch.

Doron: Ohne diese zweite Ebene wäre es nur ein Bericht. Weil wir aber alle die Nase voll haben von den ewiggleichen Geschichten aus dem Nahen Osten, musste ich einen persönlichen und emotionalen Weg finden, um sie neu zu erzählen. Um diesen neuen Zugang zu finden, habe ich alle meine literarischen Mittel ausgeschöpft. Denn wir brauchen auch eine andere Sprache für die Tragödien beider Seiten.

STANDARD: Es geht Ihnen darum, dass die traumatischen Erfahrungen beider Seiten zu ihrem Recht kommen. Das ist keine leichte Aufgabe.

Doron: Ja (lacht), aber das ist nichts Neues für mich. In allen meinen Büchern habe ich eine enge Beziehung zu meinen Protagonisten aufgebaut. Mir geht es darum, ihre Gefühle von Traumatisierung, Rache und Hass zu verstehen. Wie es dazu kommen kann, dass man jemanden hasst oder sogar bereit ist, ihn zu töten. Ich bin mit einer Menge dunkler Schatten aufgewachsen. In meiner Welt waren die Geschichten von Krieg und Überleben stets präsent. Wenn ich heute mit meinen palästinensischen Freunden rede, dann merke ich, dass es für sie genauso ist. Für Israelis und Palästinenser gleichermaßen ist Krieg ein zentraler Teil ihres Lebens.

STANDARD: Sie haben ausführlich mit Menschen gesprochen, die für viele Menschen in Israel als Verräter oder Terroristen gelten. Haben Sie damit eine Art roter Linie überschritten?

Doron: Manche meiner Freunde denken in der Tat, dass etwas mit mir nicht stimmt. Heutzutage wollen alle Teil des Konsenses sein, denn das Leben ist schwierig genug. Aber als Schriftstellerin muss ich rote Linien überschreiten, damit meine Geschichte für mich selbst interessant wird. Ich habe einfach eine Geschichte erzählt.

STANDARD: Wie hat das Schreiben an diesem Buch Sie selbst verändert?

Doron: Zunächst einmal habe ich viele Freunde verloren. Es ist schwierig für sie und für mich, unsere Beziehung fortzusetzen, weil ich eine nörgelnde und ungeduldige Person geworden bin. Ich wollte, dass sie meine neuen palästinensischen Freunde treffen. Vergleichbar damit, wenn man sich verliebt und möchte, dass die ganze Welt diese neue Liebe trifft. Ich habe eine Menge Druck gemacht, damit meine Freunde sich ihre Geschichten von Besatzung und Zerstörung anhören. Aber sie wollten einfach nur, dass ich sie in Ruhe lasse, denn sie könnten als Einzelne sowieso nichts an der Besatzung ändern. Die israelische Gesellschaft ist in den vergangenen Jahren nationalistischer und selbstbezogener geworden, und so wurde ich für viele eine Art Verräterin oder zumindest eine irrationale Person.

STANDARD: Wie leben Sie damit?

Doron: Es hat mich dazu gezwungen, meine Positionen zu überdenken. Nachdem ich Sweet Occupation geschrieben habe, fühle ich mich viel freier. Ich habe weniger Angst, etwas zu wagen, und verstehe auch besser, warum Menschen Tragödien erleben und trotzdem schweigen. Viele Menschen wollen einfach nur leben und haben nicht die Energie, um Widerstand zu leisten. Der gemeinsame Weg mit meinen palästinensischen Freunden hat mich ermutigt, meiner eigenen Intuition zu folgen und eigene Urteile zu fällen. Jetzt habe ich in gewisser Weise das Privileg, offener zu sein und Dinge genauer zu hinterfragen.

STANDARD: Sie fühlen sich Ihren Protagonisten von der Gruppe "Combatants for Peace" sehr verbunden. Was bedeutet es für solche Initiativen, wenn das Klima im Land nationalistischer wird?

Doron: Als Friedens- und Menschenrechtsgruppen fühlen wir uns isolierter, aber wir sind dafür untereinander sehr eng verbunden. Wir glauben, etwas Wichtiges zu leisten, damit die Wunden der israelischen Gesellschaft endlich heilen können. Aber es gibt kaum Informationen über unsere Arbeit. Der Trend geht dahin, die Reihen zu schließen und sich mehr auf die eigenen Bedürfnisse zu konzentrieren, sich mit der eigenen Kultur, Religion und den eigenen Traumata zu beschäftigen. Wir müssen Argumente liefern und versuchen, Aufmerksamkeit zu erlangen, aber wir stehen heute am Rande der Gesellschaft. Wir müssen trotzdem weitermachen, weil es die einzige Möglichkeit ist, um den Horizont in Israel wieder zu weiten.

STANDARD: Beim Besuch des deutschen Außenministers Sigmar Gabriel in Israel kam es zum Eklat, weil Gabriel Vertreter von "Breaking the Silence" treffen wollte, einer Organisation ehemaliger Soldaten, die über die Situation in den besetzten Gebieten informieren und zu einem Ende der Besatzung beitragen wollen. Wie beurteilen Sie diesen Konflikt?

Doron: Es gab wohl auch Probleme mit dem Protokoll, aber nur ein Gericht könnte zu dem Urteil kommen, dass "Breaking the Silence" keine legitimen Ziele hat. Das darf keine Frage der Atmosphäre sein. Das Problem in Israel ist, dass niemand die Anliegen von "Breaking the Silence" hören möchte. Und in der Folge sieht man sie dann aber als Verräter an, weil sie ihre Geschichte im Ausland erzählen. Man könnte ja die Zeugenaussagen der Soldaten überprüfen, aber es geht gar nicht um Fakten oder um Details. Wir brauchen unsere inneren Feinde, um das israelische Narrativ zu bestärken. Und für Netanjahu geht es schließlich darum, mehr Zustimmung von den nationalistisch orientierten Wählern zu bekommen. (Claudia Mende, Album, 27.5.2017)