Pieter M. Judson: "Habsburg – Geschichte eines Imperiums 1740-1918". Aus dem Englischen von Michael Müller. € 35,- / 667 Seiten. C.-H.-Beck-Verlag, München 2017

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Das Habsburgerreich war lange vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs zum Untergang verurteilt, als anachronistischer, reformunfähiger Vielvölkerstaat, dem das Erwachen der Nationen den Garaus machte. Folgt man Pieter M. Judson in seinem jüngst auf Deutsch erschienenen Werk ("Habsburg – Geschichte eines Imperiums 1740-1918"), dann ist an dieser gängigen Deutung fast nichts richtig. Denn es sei eben nicht ein, wenn auch multiethnischer Staat gewesen, der auseinanderdriftete, sondern es waren deren zwei: Österreich und Ungarn, zusammengehalten letztlich nur durch einen gemeinsamen Monarchen. Jeder der beiden Staaten konnte aufgrund der Verfassung Reformen im jeweils anderen behindern. Und diese Blockade habe eine föderale Neugestaltung des Reiches verhindert, die den nationalen Ambitionen der Völker Rechnung getragen und damit das Überleben der Monarchie gesichert hätte.

Durchwursteln als Strategie

"Die Existenz nationalistischer Bewegungen und nationalistischer Konflikte schwächte den Staat nicht lebensbedrohlich und führte mit Sicherheit nicht zu seinem Zusammenbruch im Jahr 1918", schreibt der 1954 geborene US-amerikanische Historiker, der am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz lehrt. Und weiter: "In Österreich-Ungarn wirkten sich die Institutionen des Reiches und die Erwartungen, die es geweckt hatte, auf die Forderungen der nationalistischen Bewegungen aus. Es waren Einrichtungen des Reiches, von Schulen und Kasernen bis zum überregionalen Handel und zur wissenschaftlichen Forschung, die im Zentrum politischer Aktivitäten und emotionaler Bindungen standen. Die Spannungen, die durch den Widerstreit zwischen nationalistischen Impulsen und solchen, die der Einheit des Reiches galten, entstanden, führten zu einer noch kreativeren, ,fantasievolleren' staatlichen Politik."

Aber diese Politik war eben nicht fantasievoll genug, um das Reich zu retten. Diesmal genügte Durchwursteln nicht mehr, jene lange so erfolgreiche Herrschaftsstrategie der Habsburger. Die Elite selbst war es, die sich von einem existenziellen Pessimismus habe mitreißen lassen, der im Krieg die einzige noch erfolgversprechende "Lösung" sah. Nicht von Historikern, sondern von den Führungsschichten der Monarchie selbst stammt laut Judson also das Bild vom moribunden Staatsgebilde.

Der höchste weltliche Katholik

Dabei stellt Judson der Kreativität der Habsburger und ihrer Fähigkeit, auf Herausforderungen zu reagieren, unter dem Strich ein durchaus positives Zeugnis aus. Ihr Grunddilemma: Stets waren die Ambitionen größer als die Mittel, sie zu verwirklichen. Das schwächte allerdings nicht nur die Wirkung höchst sinnvoller Reformen ab, wie im Fall der von Maria Theresia eingeführten Schulpflicht: Mangels geeigneter Lehrer konnte sie auf dem Land nur sehr schleppend eingeführt werden. Umgekehrt wurde auch die Wirkung autoritärer Politik gedämpft. So war der berüchtigte Überwachungsstaat unter Kanzler Metternich laut Judson weit weniger effektiv als gemeinhin dargestellt.

Viele Zensoren verstanden aufgrund bescheidener Bildung selten den Sinn staatsgefährdender Texte. Und während etwa die britische Königin Victoria 1848 in London bei der Überwachung der Bevölkerung auf 3000 gut ausgebildete Polizisten, 50.000 Soldaten und 150.000 besondere Wachtmeister zählen konnte, verfügte man in Wien nur über 1000 Polizisten, 14.000 Soldaten und ebenso viele Angehörige der städtischen Garde – die allerdings mehrheitlich in Marschkapellen spielten. Absolutismus, gemildert durch Gemütlichkeit.

Es ist ein Reich der Paradoxe, der inneren Widersprüche mit oftmals unerwarteter Wirkung, durch das Judson die Leser führt. So auch im Fall der radikalen Reformen Josephs II., von denen der Monarch die meisten wegen zu großen Widerstandes wieder zurücknehmen musste. Und doch trugen sie maßgeblich zur Revolution von 1848 bei, die ihrerseits in ein autoritäres Regime unter Franz Joseph mündete, das dann von diesem selbst wiederum abgeschwächt wurde und den wirtschaftlichen Aufschwung förderte.

Ein weiteres Beispiel für das kakanische Paradoxistan: Durch das Konkordat mit Rom wurde die traditionelle Rolle der Habsburger als höchste Verteidiger des katholischen Glaubens von Neuem herausgestrichen. Gleichzeitig betonte Franz Joseph durch häufige Besuche von Gebets- und Andachtsstätten anderer Konfessionen seine Rolle als Schutzpatron religiöser Minderheiten und wurde von Juden, Orthodoxen und Protestanten auch als solcher empfunden. Nach der Annexion Bosniens 1908 wurde der höchste weltliche Katholik dann auch noch zum obersten Beschützer der dortigen Muslime.

Lehren für die EU

Wie so oft, wenn es um das Erbe der Habsburger geht, ist man auch bei der Lektüre von Judsons brillantem und spannend geschriebenem Werk ständig versucht, Lehren für die Europäische Union in ihrer gegenwärtigen existenziellen Krise abzuleiten. Auch für die EU trifft ja mehr denn je zu, dass ihre Ambitionen weit größer sind als ihre Möglichkeiten, sie zu realisieren. Und auch wenn es derzeit zum Feiern wenig Grund gibt: Wie Wien unter Kaiser Franz I. nach dem Ende der Napoleonischen Kriege mit der Entwicklung einer reichsweiten gemeinsamen Fest- und Feierkultur reagierte, ist schon eine Überlegung zur Selbstdarstellung der Union wert. Man wird diesfalls hoffentlich nicht warten müssen, bis ein Krieg den Anstoß dazu liefert. (Josef Kirchengast, 27.5.2017)