STANDARD: Frau Lahmer-Hackl, Sie sind als Religionslehrerin in der Situation, dass Sie das einzige "Pflichtfach" unterrichten, von dem man sich (ab 14 auch selbst) abmelden kann. Wie ist das, empfinden Sie das auch als Kränkung?

Lahmer-Hackl: Ich kam aus einer katholischen Privatschule hierher und habe das erste Mal Abmeldung erlebt. Für mich ist eine Welt zusammengebrochen. Ich war wirklich nahe daran, den Job zu schmeißen. Aber ich habe gelernt, damit umzugehen. Ich erinnere mich an eine Schülerin, die sagte: Frau Professor, der Unterricht gefällt mir eh, aber ich bin schlecht in der Schule und werde mich nächstes Jahr abmelden.

Treffpunkt Fortuna: Angela Lahmer-Hackl und Clemens Sander im Garten des BRG/Borg St. Pölten. Die Göttin ist ein Relikt aus dem Borg-Musical "Carmina Burana", 2003 aufgeführt im Festspielhaus.
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STANDARD: Herr Sander, als Ethiklehrer profitieren Sie davon, weil "Religionsabmelder" in Schulen mit dem Schulversuch "Ethikunterricht" keine Freistunde haben, sondern Ethik machen müssen. Ist das nicht auch ein seltsames Gefühl, so zu Schülern zu kommen?

Sander: Ich glaube nicht, dass alle aus reiner Abneigung gegen Religion bei mir sitzen, sondern auch aus Neugier. Die wollen einmal etwas anderes, nicht weil sie alles ablehnen, was vorher da war. Mir ist auch einmal passiert, dass sich ein paar Schüler wieder zum Religionsunterricht zurückgemeldet haben, nachdem ich ihnen erzählt hatte, was Ethik ist, was ich mache und verlange. Aber natürlich würde ich es schöner finden, wenn es durchmischter wäre. Bei mir ist zwar die Mehrheit religionsindifferent oder -kritisch, aber ich habe immer wieder auch religiöse Schüler, und das belebt das Ganze. Mehr Pluralismus und ein gemeinsamer Unterricht wären schon etwas Gutes.

STANDARD: Frau Lahmer-Hackl, Sie unterrichten ja auch Ethik. Kann es sein, dass jemand, der sich von Religion abmeldet, bei Ihnen dann in der Ethikklasse sitzt?

Lahmer-Hackl: Ja. In meiner ersten Ethikgruppe hatte ich eine Schülerin, die ich in der Unterstufe in Religion hatte, und beim jährlichen Feedback sagte sie dann: "Als ich gesehen habe, dass ich Sie in Ethik habe, dachte ich mir, na, jetzt habe ich mich für Ethik angemeldet und bin wieder in Religion, aber das war überhaupt nicht so, ich bin total positiv überrascht, dass das ganz anders war."

Bevor es in der Schulbibliothek zum kollegialen Streitgespräch kam, hatte Angela Lahmer-Hackl eine Ethikstunde und Clemens Sander Maturaufsicht in Spanisch.
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STANDARD: Es gibt Kritiker, die sagen: Religionslehrer können/dürfen/sollen nicht Ethik unterrichten, das schließe sich inhaltlich aus.

Lahmer-Hackl: Für mich ist eine Grundvoraussetzung, dass ich auch als Religionslehrerin eine Ethikausbildung mache. Die habe ich. Außerdem müssen wir als Lehrer sowieso von unserer Meinung absehen können, in jedem Fach. Ich denke, ich habe gegenüber Clemens sogar einen Vorteil: Die Schüler wissen, aus welchem Stall ich komme.

Sander: Ein Verbot für Religionslehrer wäre wohl eine Diskriminierung. Warum dürfen Theologen nicht auch die Ausbildung zum Ethiklehrer machen? Bei dir bin ich da völlig unbesorgt, aber ich kann die Sorgen verstehen, dass manche glauben, dann kommt die Religion durch die Hintertür wieder herein, die nutzen Ethik nur aus Jobangst, obwohl sie gar nicht dahinterstehen, und machen dann das Gleiche. Es gibt sicher Fälle, wo das so ist.

Lahmer-Hackl: Da stimme ich dir zu, darum ist eine universitäre Ausbildung so wichtig. Es ist vor allem die Frage des Zugangs zur eigenen Religion, egal welcher. Aber das erlebt man auch in anderen Fächern, dass man denkt: Na ja, ein bisschen mehr Selbstkritik oder Distanz zu dem, was so meins ist, wäre manchmal gut.

Sander: Nicht nur Religionslehrer predigen. Es gibt immer wieder Lehrer, die ihre persönliche Überzeugung in die Klasse tragen. In Deutschland gibt es das Überwältigungs- und Indoktrinationsverbot. Kontroverse Themen müssen kontrovers dargestellt werden, immer auch die Gegenposition. Das machen wir in Ethik sogar bei Menschenrechten, wir zeigen auch Gegenargumente, Nietzsche, Bentham etc. Es wird keine Ideologie vorgegeben.

"Der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse ist vielleicht genau das, wovon wir im Ethikunterricht naschen", meint Clemens Sander.

STANDARD: Welche Rolle spielt denn das Thema Religion im Alltag der Schülerinnen und Schüler untereinander?

Lahmer-Hackl: Eine relativ kleine. Ich kann mich nur an eine Klasse erinnern, in der es sehr viele Religionen und vor allem auch viel Migrationshintergrund gab. Da habe ich eine Religionsstunde verwendet, um alle hereinzuholen und erzählen zu lassen, was denn das Typische in ihrer Religion ist.

Sander: Der einzige Fall eines wirklich stark religiös motivierten Arguments bei mir im Ethikunterricht war ein 14-Jähriger, dessen erste Frage war: Herr Professor, ist es normal, schwul zu sein? Das war ein Muslim. Zu der Frage kam es, weil sich in der Klasse ein Mitschüler offen zu seiner Homosexualität bekannt hatte.

STANDARD: In Österreich läuft der Schulversuch "Ethik als Pflichtgegenstand für SchülerInnen, die keinen Religionsunterricht besuchen" seit 20 Jahren. Weiter so oder Pflicht für alle? Was meinen Sie?

Sander: Ich wäre schon zufrieden, wenn Ethik wie im Schulversuch ins Regelsystem übernommen würde. Ich kann auch der Idee eines Ethikunterrichts für alle etwas abgewinnen, bin aber gespalten, eben weil ich weiß, dass es Kolleginnen und Kollegen gibt, die guten Religionsunterricht machen. Werden die alle arbeitslos, wenn sie nicht auch Ethik unterrichten dürfen? Und wenn sie Ethik lehren dürfen, passiert vielleicht genau das, was Freidenker und Säkulare nicht wollen, dass die Religionslehrer den Ethikunterricht übernehmen, denn so viele ausgebildete Ethiklehrer gibt es ja nicht.

Lahmer-Hackl: Derzeit läuft Ethik laut Gesetz als Ersatzunterricht. Das ist nicht meine Position. Bei uns ist es eine gleichwertige Alternative. Wir führen Ethik und Religion parallel. Ich hatte jetzt Ethik, und die anderen hatten Religion. Wenn es genug Stunden gäbe, was unrealistisch ist, dann wäre ich dafür, dass alle Zugang zu allem haben. Mir gefällt die Vision, dass man Philosophie, Ethik und Religion zusammenlegt und ab der fünften Klasse macht. Das müsste man komplett neu aufstellen. Ich halte es da mit Jürgen Habermas, der sagt: Wir leben in einer postsäkularen Gesellschaft, die Religion ist aber nicht ausgestorben durch die Aufklärung. Sie ist da und beschäftigt uns kontrovers. Umso wichtiger wäre es, sich mit Religion intensiv auseinanderzusetzen, damit nicht Jugendliche innerhalb von drei Wochen religiös fanatisiert werden und nach Syrien gehen, weil es angeblich ihre Religion sagt. Es gibt auch sehr problematische fundamentalistische Strömungen im Christentum.

Sander: Der Name Ethik ist auch irgendwie falsch. Das Fach müsste eigentlich Philosophie mit Schwerpunkt Ethik und Religionswissenschaft heißen. Wir philosophieren ja nicht nur über Moral, oder wenn man einen Philosophen vorstellt, kann man sich nicht nur herauspicken, was er zu Moral gesagt hat, sondern man muss das ganze System verstehen. Genauso bei der Religion.

"Wir leben in einer postsäkularen Gesellschaft, die Religion ist aber nicht ausgestorben durch die Aufklärung", sagt Angela Lahmer-Hackl.
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STANDARD: Was ist das Ziel Ihres Ethik- bzw. Religionsunterrichts?

Sander: Mein Ziel ist das, wofür Sokrates zu Tode verurteilt wurde: dass die Schüler durch Fragen zum selbstständig Denken angeleitet werden und sich nicht so leicht von Ideologien verführen lassen oder Propheten folgen.

Lahmer-Hackl: Grundsätzlich ist mein Ziel in Ethik wie in Religion, dass die Jugendlichen selbst denken und eigenständig ihre Position entwickeln. Wer selber denkt, wird weise und klug. In Religion ist für mich wichtig, sich auch mit dem eigenen Bekenntnis kritisch auseinanderzusetzen. Kann der Glaube mein Leben tragen, ja oder nein? Diese Entscheidung ist offen. Wir sind als Schule auch gefordert, wenn ich an den Rechtspopulismus in Europa denke. Ich zeige den Schülern, welche Rolle die katholische Kirche da in Ungarn oder Polen spielt und wie das in der Geschichte war.

STANDARD: Wäre es nicht sinnvoll, dass über so wichtige Fragen alle Schüler gemeinsam nachdenken?

Lahmer-Hackl: Ja, dem kann ich auf jeden Fall etwas abgewinnen.

Sander: Ich auch.

Lahmer-Hackl: Darum bin ich auch ein bisschen gespalten, was Ethik- und Religionsunterricht anlangt. Ich würde es sehr befürworten, dass man diese Fächer wirklich offener sieht und zumindest Begegnungszonen einplant. Aber die Bildungsreform läuft ja wieder nicht so, dass man Dinge aufbricht und mehr in den Diskurs eintritt.

Sander: Ich beginne den Ethikunterricht – die Schüler halten es für eine Ironie des Schicksals – oft mit Adam und Eva ...

Lahmer-Hackl: Auf die Idee käme ich nie ... (lacht). Ich merke, dass ich, gerade wenn es um religiöse Themen geht, in Ethik vorsichtiger bin.

Sander: Ich sage dann: Der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse ist vielleicht genau das, wovon wir im Ethikunterricht naschen. Vielleicht ist Ethikunterricht die verbotene Frucht.

Lahmer-Hackl: Dem stimme ich als Theologin in keiner Weise zu, dass nur der Ethikunterricht diese Erkenntnis sucht. Ich habe ein großes Problem, wenn man mithilfe dieses Bibeltextes mit Glauben ein bloß fatalistisches Gottvertrauen und den Ausschluss der Vernunft und Verantwortung verbindet.

Sander: So einseitig stelle ich diese These auch nicht in den Raum, mein Motto für den Ethikunterricht habe ich sogar aus der Bibel gestohlen: Bei Paulus steht im ersten Brief an die Thessalonicher: Prüft alles und behaltet das Gute. (Lisa Nimmervoll, 28.5.2017)