Robert Musil, Verfasser des Jahrhundertromans "Der Mann ohne Eigenschaften", schrieb neben Novellen, Romanen und Dramen auch politische Essays – und war ein prononcierter Gegner des Nationalsozialismus. Dennoch wurde ihm vorgeworfen, dass die jüdischen Figuren in "Der Mann ohne Eigenschaften" antisemitische Stereotypen reproduzierten.

Der Germanist, Schriftsteller und Historiker Walter Fanta geht diesem Vorwurf nach. Fanta arbeitet am Robert-Musil-Institut für Literaturforschung der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt. Er ist Herausgeber der zwölfbändigen Musil-Gesamtausgabe beim Verlag Jung und Jung und Kurator des Internetportals musilonline. Im Februar ist der dritte Band der Gesamtausgabe erschienen, der jenen Teil des "Mann ohne Eigenschaften" enthält, den Musil 1932 fertigstellte.

Foto von Musil, zur Verfügung gestellt vom Robert-Musil-Institut.
Foto: Robert-Musil-Inst./Kärnter Literaturarchiv

Utopie statt Kampfschrift

Musil lebte 1931 bis 1933 in Berlin und wurde Zeuge des Erstarkens der nationalsozialistischen Bewegung – in der er eine Wiederholung der kollektiven nationalistischen Aufwallung im Sommer 1914, zur Zeit des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs, sah. Laut Fanta plante er den ersten Teil des zweiten Buchs seines "Mann ohne Eigenschaften" als Warnschrift vor dem Nationalsozialismus. "Angesichts der Bücherverbrennungen im Mai 1933 verließ Musil Berlin und zog sich nach Wien zurück. Von 1936 an wurde ihm die Sinnlosigkeit des Vorhabens, eine Kampfschrift gegen die Nationalsozialisten zu schreiben, klar. Er erkannte, dass er mit seinen Mitteln zu langsam war, um gegen den Aufstieg der Nazis etwas auszurichten. Jetzt wollte er eine positive Utopie für spätere Generationen schreiben", erklärt Fanta im Gespräch.

"Nellie Kreis, eine begeisterte Leserin, warf Musil in einem Brief vor, seine Darstellung jüdischer Figuren in 'Der Mann ohne Eigenschaften' würde antisemitische Klischees reproduzieren. Etwa die Figur des Dienstmädchens Rachel, eines gefallenen Mädchens aus Galizien, das sich mit dem 'Mohrenknaben Soliman' verbündet." Gemeinsam sollen sie die "vaterländische Aktion" konterkarieren, die in Wien 1913 als Parallelaktion – zum 35. Regierungsjubiläum des deutschen Kaisers Wilhelm II im Jahr 1918 – das 70-jährige Regierungsjubiläum Kaiser Franz Josefs vorbereiten soll. "Sie verhalten sich subversiv, und stehen somit", so Fanta, "historisch auf der richtigen Seite."

Handschriftliche Aufzeichnungen von Musil.
Foto: ÖNB - Musil-Nachlass, Mappe VII/8/123

Musil wurde in Zusammenhang mit "Rachel" und "Soliman" auch ein  "kolonialistischer Blick" vorgeworfen. "Die Figuren gehören zu den 'Wilden'. Sie sind kindlich und naiv, ahnen instinktiv das Richtige – nämlich das Falsche unserer Kultur im Freudschen Sinn", meint Fanta. Rachel wird von Soliman schwanger und im geplanten Romanfinale von Ermelinda Tuzzi alias Diotima, in deren Salon die Parallelaktion vorbereitet wird, mit Schimpf und Schande entlassen. "Und so in ihre unterprivilegierte Existenz als jüdische Paria zurückgeschleudert."

"Diotimas vermutlich großer Popo"

Augenfälliger als das Dienstmädchen Rachel repräsentiert laut Fanta die Figur des Dr. Paul Arnheim antisemitische Stereotypen. "Er ist Kronprinz eines Vaters, der aus einem "Müllveredelungsgeschäft" einen Weltkonzern gemacht hat. Arnheim ist der große Finanzmann; die Scheiße, die für den Vater der Müll war, aus dem er Geld macht, ist für Arnheim das Geld, das er zur Kultur – Seele, Kunst, altes österreichisches Barock, "Diotimas vermutlich großer Popo" – veredelt. Arnheim entspricht dem Typus des assimilierten großbürgerlichen Juden. Sein historisches Vorbild ist Walter Rathenau. Arnheim wird nicht – so wie sein Vorbild Rathenau – Organisator der deutschen Kriegswirtschaft im Ersten Weltkrieg, sondern zieht sich den Plänen Musils zufolge in die Schweiz zurück. Er überspringt damit das Kriegsengagement Rathenaus und wird gleich zum 'Versöhnungs-Reichsaußenminister'." Arnheim ist allerdings kaum als Jude erkennbar. Fanta: "Es handelt sich bei ihm um einen Krypto-Juden mit einem 'phönikisch-harten Herrenkaufmannschädel', eine typische literarische Euphemisierung jüdischer Identität. Das Fatale an Arnheim ist in der autorisierten Fassung des Romans verwischt. In den apokryphen Nachlasstexten entspricht die Figur dem 'schmutzigen Juden' der Nazis (Hitlers 'Mein Kampf') mit Anspiegelungen auf seine 'Neigung für den Popo'."

Pronociert "jüdisch" ist dagegen die Figur des Bankprokuristen Leo Fischl. "Er entspricht dem Typus des assimilierten liberalen, eher kleinbürgerlichen Juden, verheiratet mit einer 'Arierin'. Seine Tochter Gerda ergeht sich mit dem präfaschistischen Jurastudenten Hans-Sepp in krausen völkischen Mythologien, wie sie Brigitte Hamann in ihrem Buch 'Hitlers Wien' beschreibt. Im nie ausgeschriebenen Romanfinale wird Fischl zum Spekulanten und Kriegsgewinner. Er wird also tatsächlich zu dem Juden, für den ihn alle halten", meint Fanta im Gespräch.

Weitere handschriftliche Anmerkungen des Autors.
Foto: ÖNB – Musil-Nachlass, Mappe II/8/73

Weil es überhaupt keine Eigenschaften gibt

Der Antisemitismus-Vorwurf der Nellie Kreis bezog sich jedoch vor allem auf die fragwürdige Figur des Feuermaul, die Franz Werfel, dem Protegé von Alma Mahler, nachempfunden ist, die im Roman als Frau Drangsal erscheint. "Der pazifistische Lyriker Feuermaul verkündet in Diotimas Salon, dass alle Menschen gut sind. Aber es wird ihm vom Erzähler als biografischer Hintergrund für seine Friedensliebe ein ideologisches Interesse unterstellt. Als Sohn eines jüdischen Geschäftsmannes in einer kakanischen Provinzstadt, gerät er zwischen die nationalistischen Exzesse der Deutschen und der Tschechen. Er wird zum Pazifisten, weil er als Außenseiter kein Nationalist sein kann. Feuermaul ist die Figur mit den meisten als antisemitisch einzustufenden Charakterzügen", so Fanta. "Ab 1933 denkt Musil fieberhaft darüber nach, wie er diese Figur aus dem Roman wieder entfernen kann. Im Druckfahnen-Kapitel 49 von 1938 verkündet General Stumm von Bordwehr: 'den Feuermaul sind wir los'."

Den Antisemitismus dekonstruieren

Musil antwortete auf alle erwähnten "Anklagepunkte", dass er einen Beitrag zur Überwindung des Antisemitismus leisten wollte. "Es ging ihm nicht darum, zu zeigen, 'wie Juden sind'", meint Fanta, "er wollte vielmehr "den Antisemitismus dekonstruieren."

Aus dem Roman wird Fanta zufolge erkennbar, dass die Zuschreibungen an die jüdischen Figuren keine echten, realen Eigenschaften sind, die diese Figuren haben, "weil es überhaupt keine Eigenschaften von Menschen gibt. Dies besagt ja die Formel vom 'Mann ohne Eigenschaften': Eigenschaften sind immer Zuschreibungen von außen. Wir sind immer die, als die wir von außen gesehen werden. Und: wir glauben das von uns, was die anderen in uns sehen." (Sama Maani, 30.5.2017)

Veranstaltungshinweis: Archivgespräch – Robert Musil am 12. Juni um 19 Uhr mit Walter Fanta, Dagmar Leupold, Clemens J. Setz im Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek

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