Erinnerung an die verflossene Seligkeit, an die moderate Borniertheit im Wohlstandsgewand: an den Nationalstaat. Aber er hat seine Möglichkeiten im 19. und 20. Jahrhundert schon ausgereizt.

Illustration: Der Standard

Man soll dem Nationalstaat eine Chance geben, meinen Thomas Grischany und Ralph Schöllhammer im STANDARD (9. Mai). Freilich: Die hatte er doch schon, ungefähr zweihundert Jahre lang. Aber vielleicht klappt es mit einem "aufgeklärten Patriotismus". Was könnte einem in dem Zusammenhang einfallen? Den Autoren offenbar unter anderem 400.000 Muslime aus Britisch-Indien, die im Ersten Weltkrieg "London treu dienten".

Dass es europäischen Imperien gelang, Soldaten aus den Kolonien für die Austragung ihrer Rivalitäten zu verheizen, ist jedoch weniger ein Exempel für die Zukunftskraft der Nation als für eine Kombination aus nationalistischer Mobilisierung und imperialistischer Politik. Die wiederum ist kein Seitenweg, auf den sich die Nation gelegentlich verirrte, sondern eine ihrer Hauptrouten.

Figur des Sozialen

Skepsis ist also angebracht, ohne dass man die Nation als Figur des Sozialen verteufeln muss. Historisch war sie ein Mittel, mit Veränderungen zurechtzukommen, die als Entbettung aus kleinteiligen sozialen Zusammenhängen wirkten.

Industrialisierung und Urbanisierung schufen eine neue Qualität überregionaler Vernetzung, in denen entpersonalisierte Regelungsmechanismen eine immer größere Rolle spielten. Die Vorstellung der Nation begleitete diese Entwicklungen, indem sie das für den Einzelnen unüberschaubare soziale Gefüge emotional auflud.

Sie versprach eine Gemeinschaft, ein heimeliges Wir, ausdehnbar auf Millionen Menschen. Dieses Wir sollte so weit reichen wie die Gesellschaft, die der moderne Staat umschloss. Der Nationalstaat ist also das Ergebnis der Verbindung aus kapitalistischer Wirtschaft, der infrastrukturellen Macht des Staats und dem kulturellen Phantasma der Nation.

Vollständig ausgelotet

Die Entwicklungspotenziale des Nationalstaats sind aber endlich und wurden bereits im 19. und 20. Jahrhundert voll ausgelotet: Da war die bürgerliche Variante des konstitutionellen und parlamentarisierten Nationalstaats, der so lange politische Rechte garantierte, als sie nicht "übermäßig" in Anspruch genommen wurden.

Und das heißt vor allem, dass sie sich nicht gegen eine marktwirtschaftliche Ordnung richten durften; weiters die Radikalisierung der Nation zur rassistischen Volksgemeinschaft, die den Nationalstaat expansiv überhob und als Vernichtungsgemeinschaft die anderen kolonialisierte, versklavte und ausmerzte; zuletzt nach 1945 die sozialliberale Version, die über die Steigerung des Lebensstandards die nivellierte Mittelstandsgesellschaft zu erreichen suchte. Sie identifizierte die (Staats-)Nation mit dem Geltungsbereich staatlicher Wohlfahrt.

Les Trente Glorieuses

In der langen Nachkriegszeit, den Trente Glorieuses, wie man sie in Frankreich nennt, schien es, als würde der westliche Nationalstaat ein Wunder vollbringen: die miteinander verbundene Zivilisierung der Nation und des Kapitalismus im Zeichen einer friedfertigen Wohlstandshoffnung.

In Österreich erlebte der sozialliberale Nationalstaat während der 1970er, der Ära Kreisky, seinen Höhepunkt. Besonders an der "Insel der Seligen" war nur, dass die Glückseligkeit ihre Vollkommenheit erreichte, als andernorts bereits die Ölkrisen ihr absehbares Ende signalisierten.

Heimat und Moderne

Es ist diese Fassung der Nation, die scheinbar ideale Kombination aus Heimat und Moderne, die inzwischen als Gegenstand nostalgischer Erinnerung taugt und offen oder verdeckt als Projekt in Stellung gebracht wird, das es wiederzubeleben gälte.

Wenig überzeugend ist aber, dass der Nationalstaat geeignet wäre, die Problemlagen der Gegenwart zu bewältigen: Migration, Klimawandel, zunehmende soziale Ungleichheit sowie den Druck von Besitz- und Unternehmereliten, Globalisierung als neoliberalen Umbau der Gesellschaft zu betreiben.

Der neokorporatistische Nationalstaat beschwor die Harmonie (bloß keine Streiks, wir sitzen alle im selben Boot), doch konnte er diese nur auf Basis einer historisch einzigartigen Wirtschaftskonjunktur sicherstellen. Heute ist es hingegen wenig plausibel zu erwarten, dass man sich neuerlich in den Wohlstand betonieren könnte, unterstützt von "Globalsteuerung" auf nationale Art, wie sie der Keynesianismus mehr behauptete, als zu leisten in der Lage war.

Veränderte Situation erkennen

Man muss die Vergangenheit nicht ablehnen. Sie differenziert und wertschätzend zu behandeln heißt aber, die veränderte Situation zu erkennen. Ansonsten liefert die Erinnerung an die verflossene Seligkeit, an moderate Borniertheit im Wohlstandsgewand, bloß die Munition für autoritäre Politiken.

Aus den Inszenierungen des Österreichischen, das touristischen Charme hat und in dem man sich immer dann zu Hause fühlen kann, wenn einem die Welt zu wild vorkommt, wird unversehens eine von Verlustangst angetriebene Maschine der Aggression. Eben darum gebärdet sich ja die FPÖ als Österreich-Partei.

Die Nation, und in "unserem" Fall die österreichische, ist Teil "unserer" Vergangenheit. Zu einer progressiven Zukunft gehört sie nicht. Dafür müssen neue Integrationsformen quer zu nationalstaatlichen Ordnungsmustern gefunden werden. Besser, wir haben das Bewusstsein der Notwendigkeit von Neuem, auch wenn wir noch nicht wissen, was es genau sein könnte, als wir tun so, als ob wir auf die Politikmodelle vergangener Tage setzen könnten. (Oliver Kühschelm, 28.5.2017)