Noch immer finden sich in der Nähe des Tatorts zahlreiche Menschen ein, um der Ermordeten zu gedenken.

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In der Schule galt Abedi als "ein bisschen langsam".

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Knapp eine Woche nach dem Terroranschlag von Manchester gerät die innere Sicherheit in Großbritannien zum Wahlkampfthema. Premierministerin Theresa May wies am Sonntag auf das Wahlprogramm ihrer konservativen Partei hin: Bereits vor der Bluttat enthielt es die Idee einer Extremismuskommission, die mögliche neue Gesetze erarbeiten soll. "Wir wissen, dass wir mehr tun müssen", teilte Innenministerin Amber Rudd mit und reagierte damit auf erste Kritik durch Angehörige der 22 Toten und mehreren Dutzend Verletzten von Manchester. "Wenn unsere Regierung nicht die Augen öffnet, werden wir nur Teil einer langen Reihe von Familien sein, die vom Terrorismus zerstört werden", glaubt der Vater der 18-jährigen Georgina Callander.

Callander war in der Nacht zum Dienstag als erste Tote identifiziert worden, ein Foto mit ihrem Idol, dem US-Popstar Ariana Grande, ging um die Welt. Simon Callander sprach in seinem Statement von einem "innerlich wie äußerlich schönen Menschen, dessen Lächeln nie endete". Seine Forderung nach Konsequenzen fand Widerhall bei vielen Anrufern einer BBC-Radioshow. Die Ideen reichten von mehr Polizisten auf den Strassen über die Konfiszierung der Pässe von Extremisten bis hin zur vorsorglichen Inhaftierung von Terrorverdächtigen.

Warnstufe herabgesetzt

Nach Rudds Angaben stehen 3.000 mögliche Gewalttäter auf der Watchlist des Inlandsgeheimdienstes MI5, weitere 20.000 werden zu deren Umfeld gezählt. In den vergangenen vier Jahren seien 18 geplante Anschläge vereitelt worden. Nach weiteren Verhaftungen im Umfeld des Arena-Bombers Salman Abedi wurde die Terrorgefährdung der Insel am Samstag von "kritisch" auf "ernst" zurückgestuft – ein Anschlag gilt noch immer als "sehr wahrscheinlich", aber nicht mehr als "unmittelbar bevorstehend".

Noch immer interessiert sich die rund 1.000 Beamte umfassende Sonderkommission besonders für die Kontakte und Aufenthaltsorte des Attentäters Abedi. Ein am Wochenende veröffentlichtes Foto zeigt den 22-Jährigen in Turnschuhen und Steppjacke, mit Brille und Baseball-Kappe, lässig gegen die Aufzugs-Wand gelehnt. Wenige Minuten später zündete der in Manchester geborene Sohn libyscher Eltern am Montag gegen 22.30 Uhr seine selbstgebastelte Bombe im Foyer der Arena-Konzerthalle. Binnen zwei Stunden kannte die Kripo anhand einer Kreditkarte die Identität des Täters, seither hat die Sonderkommission ein Psychogramm gezeichnet.

Keine gute Nachrede

Abedi galt in der Schule als "ein bisschen langsam" (ein Klassenkamerad), erhielt den Spitznamen "Dumbo" (Dummerl), war "ungebildet und passiv" (ein Lehrer). "Ein unangenehmer Junge, auf niveaulose Weise unverschämt, nie mit den Hausaufgaben fertig" – die Charakterisierung seines Lehrers Mark Roberts fasst die Meinung vieler Menschen zusammen, die Abedi im Lauf seines kurzen Lebens über den Weg liefen.

Wie Zehntausende junger Muslime in ganz Europa erlebte auch Abedi einen Loyalitätskonflikt zwischen dem Herkunftsland seiner Eltern und dem Land seiner Geburt. Großbritannien hatte Abedis Eltern als Flüchtlingen vor dem Regime Mummar Gaddafis Asyl gewährt, die Familie zog nach Manchester, einem wichtigen Zentrum der libyschen Gemeinschaft auf der Insel. 2008 – Salman war 13 – kehrte sein Vater Ramadan nach Libyen zurück, um der religiös motivierten Opposition gegen Gaddafi beizustehen. 2011 durfte der 16-jährige Salman in den Sommerferien den Vater besuchen – und fand sich bald mit diesem an der Front des Bürgerkriegs, der das nordafrikanische Land bis heute prägt.

Früh fanatisch

Ein Freund der Familie, Akram Ramadan, berichtete den Medien in Manchester von der Verwirrung, in die viele junge Männer durch den Kampfeinsatz gestürzt wurden. "Hier sehen sie fremd aus, dort hören sie sich fremd an. Sie werden nicht akzeptiert oder für ihre Taten gewürdigt."

Antiterror-Fahnder hatten ihre Aufmerksamkeit bisher auf jene mindestens 800 jungen Briten konzentriert, die als Kämpfer für den Dschihad nach Syrien gereist waren. Mittlerweile sind von dort Hunderte traumatisierter, mit Waffen und Sprengstoff vertrauter junger Männer nach Großbritannien zurückgekehrt. Der Fall Abedi rückt nun die Situation in Libyen ins Blickfeld.

Der ohne Vater, seit 2012 auch ohne Mutter aufwachsende Junge von mäßiger Intelligenz fiel immer wieder wegen fanatischer Ideen auf. Bereits vor fünf Jahre warnten zwei Jugendarbeiter die Polizei, Abedi bewundere Selbstmordattentäter. Erst vor kurzem schlug sogar ein naher Angehöriger Alarm, auch die örtliche Moschee setzte eine Warnung ab. Die Antiterror-Behörden unternahmen nichts. Ungestört konnte Abedi mindestens ein Jahr lang an der Bombe arbeiten, die vergangenen Montag sein Leben und das von 22 Unbeteiligten beendete. (Sebastian Borger aus London, 28.5.2017)