Am Donnerstag befreiten jesidische Einheiten gemeinsam mit schiitischen Volksmobilisierungseinheiten das jesidische Dorf Kojo (Kurdisch: Koço) aus den Händen des IS. Christen und Jesiden fürchten aber nun, dass ihre eben zurückeroberten Gebiete in Zukunft zwischen Kurdistan und der Zentralregierung aufgeteilt werden könnten. Die im Zuge der Eroberung Mossuls abgesteckten Einsatzgebiete der kurdischen Peschmerga auf der einen und der irakischen Armee und der Volksmobilisierungseinheiten auf der anderen Seite könnten zukünftige Grenzen werden. Damit würde das christlich-assyrische Siedlungsgebiet in der Ninive-Ebene ebenso auseinandergerissen werden wie nun auch das Siedlungsgebiet der Jesiden in Sindschar.

Kojo als Ort der schlimmsten Verbrechen

Was für die Überlebenden Bewohner Kojos Anlass zur Freude ist, verkompliziert die Situation in der Region. Kojo wurde am 15. August 2014 zum Symbol der Massaker des IS an den Jesiden, nachdem die Jihadisten rund 420 Männer des Dorfes an einem einzigen Tag ermordet hatten. Ich kann mich noch gut erinnern, mit welch bewegter Stimme der Bruder des bei dem Massaker ermordeten Bürgermeisters von Kojo uns im Jänner 2015 über seine Telefonate mit seinem bereits in der Gewalt der Jihadisten befindlichen Bruders berichtete: "Vom zehnjährigen Jungen bis zum achtzigjährigen Mann haben sie jeden umgebracht!" Die Leichen der Getöteten wurden nur oberflächlich verscharrt. Viele wurden von Hunden ausgegraben und gefressen. Das ganze Gebiet ist voller Massengräber, in denen Knochen, Schädel und Kleidungsreste verstreut liegen.

Siebzehn Männer überlebten, weil sie sich verletzt unter den Leichenbergen tot gestellt und versteckt hatten, erzählte uns damals der verzweifelte Mann. Im Sommer 2015 traf ich Naif Mato nochmals. Bereits damals war er sehr unzufrieden mit der politischen Führung der Autonomieregion Kurdistan, deren Peschmerga zwar Teile der Region befreit hatten, jedoch seit Monaten nicht mehr weiter vorrückten. Nach der Befreiung der Stadt Sindschar (Kurdisch: Shingal) im November 2015 rückten die kurdischen Kämpfer nicht weiter nach Süden vor. Bis schließlich viele der Männer aus Kojo ihre Geduld verloren und sich in diesem Jahr in eigenen jesidischen Brigaden den überwiegend schiitischen Volksmobilisierungseinheiten anschlossen, die nun von Süden her in das noch vom IS gehaltene jesidische Gebiet vordrangen und Kojo befreiten. Einer von ihnen war Naif Mato, der Bruder des 2014 getöteten Bürgermeisters.

Kojo ist befreit, doch in Mossul gehen die Kämpfe gegen den IS weiter.
Foto: APA/AFP/KARIM SAHIB

Rivalitäten und Spannungen mit den Peshmerga

Vor Ort verkompliziert dies die ohnehin fragile Situation weiter. Seit Ende 2015 stehen sich die PKK-nahen jesidischen Widerstandseinheiten von Shingal YBŞ und den Peschmerga der kurdischen Regierungspartei PDK feindlich gegenüber. Dazwischen befinden sich die Bürgerwehr HPÊ von Heydar Şeşo. Nun kommen noch die Lalish-Brigade und andere jesidische Einheiten dazu, die mit den Volksmobilisierungseinheiten kämpfen.

So sehr sich die Vertriebenen aus Kojo über die Befreiung ihres Dorfes freuen, so wenig Freude scheint die Regierung der Autonomieregion Kurdistan damit zu haben. Die dort regierende Demokratische Partei Kurdistan (PDK) von Masud Barzani kontrolliert auch die Peschmerga in der Region und hat diese angewiesen, niemanden in die von den Volksmobilisierungseinheiten befreiten Gebiete durchzulassen. So scheiterte auch eine erste Gruppe von Männern aus Kojo, die gleich am nächsten Tag über Sindschar nach Kojo fahren wollten, an den kurdischen Peschmerga. Auch diese sind eigentlich Jesiden aus der Region und wer inoffiziell mit diesen spricht, findet auch bei ihnen nur wenig Verständnis für die Anordnung aus Erbil, niemanden in das frisch befreite Gebiet durchzulassen. Als dann die Peschmerga am Sonntag die Gruppe durchließ, weigerten sich allerdings die Volksmobilisierungseinheiten die Delegation der Dorfbewohner weiterfahren zu lassen.

Bei manchen Jesiden sorgt die Zusammenarbeit jesidischer Einheiten mit den schiitisch dominierten Volksmobilisierungseinheiten für Befremden. Umso mehr, da für diese Operation der – gelinde gesagt – unsensible Name "Mohammed Rasul Allah!" ("Mohammed ist der Prophet Gottes!") gewählt wurde, also der zweite Teil des islamischen Glaubensbekenntnisses. Viele Jesiden werten dies als Beleg dafür, dass die jesidischen Einheiten hier nur als Aufputz zu sehen sind und in Wirklichkeit die schiitischen Einheiten das Sagen haben.

Sacharow-Preisträgerinnen für freien Zugang

Für einen freien Zugang in ihr Heimatdorf setzen sich auch die beiden prominentesten Bürgerinnen von Kojo ein: Nadia Murad und Lamiya Adji Bashar, die wie viele Frauen aus Kojo vom IS gekidnappt wurden und heute der Weltöffentlichkeit über ihr Schicksal berichten. Beide erhielten 2016 den Sacharow-Preis des EU-Parlaments, der nach dem Friedensnobelpreis als der wichtigste Menschenrechtspreis weltweit gilt. Lamiya Adji Bashar brachte am Freitag ihre Besorgnis zum Ausdruck: "Mein Dorf ist zwar befreit, aber die Reste der Leichen meiner Angehörigen, Verwandten und Dorfbewohner liegen noch immer da und wurden noch nicht geborgen. Noch dazu verschärfen die Konflikte zwischen den Machthabenden unterschiedlichen irakischen und kurdischen Kräfte, was unsere Rückkehr erschweren wird."

In der gemischt jesidisch-christlichen Stadt Bashiqa kehren die Bewohner zögerlich zurück.
Foto: Thomas Schmidinger

Künftige Grenzen?

Nach der Eroberung Kojos rückten die der PKK nahestehenden Widerstandseinheiten von YBŞ weiter nach Süden vor. Am Sonntag trafen YBŞ und die von Südosten kommenden Volksverteidigungseinheiten aufeinander. Die YBŞ hatten schon vor einigen Tagen demonstrativ die irakische Fahne gehisst und es könnte durchaus sein, dass diese sich im innerkurdischen Konflikt mit den Volksmobilisierungseinheiten gegen die Peschmerga stellen könnten.

Jedenfalls fürchten sowohl jesidische als auch christliche Zivilisten in der Region, dass ihre ohnehin kleinen Siedlungsgebiete nun zwischen Erbil und Bagdad aufgeteilt werden könnten. Als Gegenprojekt hatten die christlich-assyrischen Gruppen bereits Anfang 2014, also noch vor der Einnahme Mossuls durch den IS in Bagdad, die Errichtung einer eigenen Provinz in der Ninive-Ebene vorgeschlagen, die als selbstverwaltete Einheit der dort lebenden Christen, Schabak und Jesiden funktionieren könnte. Diese Provinz könnte dann gegebenenfalls selbst entscheiden, ob sie Teil Kurdistans, der Zentralregierung oder eine eigene Entität werden will. Ähnliche Vorschläge liegen für Sindschar auf dem Tisch. Wer daran interessiert ist, dass diese religiösen Minderheiten im Irak eine Zukunft hat, sollte diese Vorschläge ernst nehmen und nicht deren Gebiete auseinanderreißen. (Thomas Schmidinger, 29.5.2017)

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