Der Journalist Brian Reed bespricht und produziert "S-Town".

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Sieben Stunden Spannung: das Logo von "S-Town".

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Woodstock/New York/Wien – Es ist ein Radiofeature, das sich in mehreren Folgen über fast sieben Stunden hinzieht. Das Thema ist weder besonders unterhaltsam noch sexy noch tauglich für kurze Begeisterungsstürme. Doch es ist so gut gestaltet, dass die Serie in den Vereinigten Staaten als Podcast zu einem Hit wurde.

Alles begann mit einem merkwürdigen E-Mail. Vor drei Jahren kontaktierte ein Mann in Alabama namens John B. McLemore einen Reporter, der in New York für Programme des öffentlichen Radios NPR arbeitet. Brian Reed möge kommen und endlich Licht in einen Mord bringen, der in McLemores Dorf vertuscht würde, weil wichtige Leute involviert gewesen seien. Das sei typisch für seine korrupte "Shittown" und deren Bewohner.

Paranoider Einzelgänger

Nach etlichen Mails und Konversationen, die Reed bereits aufgenommen hatte, flog er in den Süden und sah sich im angeblichen Scheißkaff um. Es heißt eigentlich Woodstock, zählt knapp 1500 Einwohner – die wenig schmeichelhafte Umschreibung gab dem Feature den Titel S-Town. Reed besuchte McLemore in seinem Zuhause im Wald und merkte bald, dass er es mit einem genialen, aber auch gestörten und paranoiden Einzelgänger zu tun hatte, der es nicht schaffte, seine luziden Einsichten in Taten umzusetzen. Die Spuren, die Reed auf den Mörder bringen sollten, erwiesen sich als Gerüchte und Sackgassen; der angeblich Ermordete lebte.

Doch bald verstrickte sich der Reporter aus New York in ganz andere Probleme. Freunde und Gegner vertrauten ihm ihre Versionen von McLemores Tun an, von seiner Rolle in dem klaustrophoben Ambiente in Alabama. Und Reed war noch mitten drin in seinem Versuch, daraus eine runde Sendung zu machen, als ihn die Nachricht erreichte, dass McLemore Selbstmord begangen hatte.

Erbschaft, Gold, Uhren

Das erfährt der Hörer am Ende der zweiten Folge der siebenteiligen Serie. Was Reed damals noch nicht ahnen konnte: Die Geschichte geht weiter, sie verzweigt sich in Streitereien um die Erbschaft, um angebliches Gold, sie berührt das Schicksal von Johns dementer Mutter und seine ungewöhnlich engen Beziehungen zu Freunden. Es kommt auch zur Sprache, dass McLemore meisterhaft antike komplizierte Uhren reparieren konnte – und was das für ihn und befreundete Spezialisten bedeutete: ein Exkurs über das unerbittliche Verrinnen der Zeit.

Das alles recherchierte Reed, immer mit dem Aufnahmegerät dabei, er montierte es zu einem großen Panorama einer kleinen Welt – und er kommentierte immer wieder seine Vorgangsweise. Innerhalb der Sendung erfährt der Hörer einiges über investigativen Journalismus im Hörfunk.

Mehr als 40 Millionen Downloads

Ende März stellten die Produzenten, die mit Serial bereits vor zwei Jahren eine erfolgreiche, mit dem Peabody-Award preisgekrönte Radioreihe geschaffen hatten, alle Folgen von S-Town ins Internet. Innerhalb von vier Tagen wurden sie zehn Millionen Mal heruntergeladen, Anfang Mai waren es bereits mehr als 40 Millionen Downloads. Mittlerweile kommen neugierige Touristen angereist, um zu sehen, was es mit Woodstock auf sich hat. Brian Reed ist selbst zum Objekt des Medieninteresses geworden, etwa als Gast in der Tonight Show von NBC, in der er über das unerwartete Echo auf seine Serie erzählte und darüber, wie ihn die Begegnung mit McLemore verändert hatte.

All das sind Indizien, wie guter Radiojournalismus blühen und gedeihen kann. Jedem, der des Englischen mächtig und sehr ungewöhnliche Stimmen aus dem tiefen Süden zu hören bereit ist, sei S-Town empfohlen. (Michael Freund, 30.5.2017)