"Großer Kopf" (um 1970) beweist Harmonie, Symmetrie und Proportion als künstlerische Parameter von Avramidis' Arbeiten.

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Joannis Avramidis an seinem 90. Geburtstag in seinem Atelier.

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Wien – Es genüge nicht, dass man etwas Besonderes mache, sagte Joannis Avramidis beim Atelierbesuch zu seinem 90. Geburtstag: "Es muss auch einer sehen. Aber gerade das Besondere sehen viele nicht." Die schnelllebige Kunstszene schien dieses Besondere an Avramidis' Skulpturen tatsächlich lange nicht (mehr) zu sehen. Es wurde zunehmend stiller um den beharrlichen Einzelgänger zeitgenössischer Kunst, der 1962 Österreich auf der Venedig-Biennale vertreten und 1964 sowie 1977 an der Documenta teilgenommen hatte.

Am 16. Jänner vergangenen Jahres starb der Träger des Großen Österreichischen Staatspreises. Dass er die bisher größte Museumspräsentation seines gleichermaßen monumentalen wie zutiefst lyrischen Werks in Österreich nicht mehr erleben durfte, ist bitter. Tröstlich nur, dass er um deren Planung wusste. Und dass auch einer seiner größten Wünsche posthum in Erfüllung gegangen war, dass nämlich auch die mehr als 13 Meter hohe Humanitassäule aufgestellt würde. Das war gar nicht so einfach, statische Gutachten mussten eingeholt werden (so wie übrigens auch für das Relief im Inneren des Hauses, in dem Avramidis die Metamorphose von Mensch zu Baum in Bronze goss).

Doch nun ragt die einachsige Stele weithin sichtbar vor dem Leopold Museum in den Himmel, Kopf auf Kopf, Fuß auf Fuß. Die an Brancusis unendliche Säule erinnernde Skulptur ist Teil einer (nie realisierten) Tempelanlage, die Avramidis in seinen letzten Schaffensjahren konzipierte. Der Tempel, sagte er, sei Ausdruck dessen, dass er "eine ungeheure Empfindung für das Sakrale, das heißt, das eben Nicht-Banale", habe.

Lebensgeschichte

Und so verwandelt sich das Leopold Museum vorübergehend tatsächlich in einen erhabenen Tempel für das zeichnerische und skulpturale Werk eines Künstlers, dessen Lebensgeschichte eng mit den Verwerfungen des vergangenen Jahrhunderts verknüpft war.

Geboren 1922 im georgischen Exil, wohin seine in der Türkei lebenden griechischen Eltern wegen des griechisch-türkischen Kriegs emigrieren mussten; 1937 wurde der Vater von Stalin-Schergen verhaftet. Die Mutter floh mit den vier Kindern nach Griechenland, wo Avramidis 1943 von den Nazis als Zwangsarbeiter nach Wien verschleppt wurde.

Rund vierzig Skulpturen und ebenso viele Zeichnungen haben die Kuratoren Stephanie Damianitsch und Ivan Ristic für die sehenswerte Retrospektive gewählt: Köpfe, Figuren und Figurengruppen, darunter Avramidis' auf Platons Utopie des Stadtstaates als Einheit freier und gleichberechtigter Individuen basierende Polis: streng konstruierte, aneinandergeschmiegte, in Form und Größe völlig gleiche Rundfiguren als Ideal einer demokratischen, emanzipierten Welt.

Der Mensch galt seinen Bronze- und Kunstharzskulpturen, orthogonalen Bandfiguren und Metallplastiken als das Maß aller Dinge, organische Formen beschäftigten ihn, stehende und schreitende Figuren, die er abstrahierte und transformierte: streng, kompromisslos und mit archaischer Eleganz. Harmonie, Symmetrie und Proportion waren gestalterische Parameter für die "absolute Figur". Allen Skulpturen gingen Konstruktionszeichnungen voran, in sattem Strich skizzierte er seine schlanken Stelen, entwarf und errechnete Skelette aus vertikal und horizontal geschichteten Metallplatten, Kreissegmenten, Richtungskreuzen, Mittelachsen.

Dass der Gestaltungsprozess sichtbar bleibt, die Nähte, die zugrunde liegende Struktur, war dem Bildhauer wichtig: "Das ist mein Anliegen: in meiner Arbeit alles offen darzulegen. Die Formel preiszugeben. Damit auch andere sie verwenden. Vorzüge wie Mängel lesen, prüfen. Die Formel: zur Herstellung eines menschlichen Werkes." (Andrea Schurian, 30.5.2017)