Erinnerung an die Flucht 1992: Passfotos für den Reisepass.

foto: privat

Die zweite Station in Österreich: vor dem Asylquartier in Thalham.

Foto: privat

Vor 25 Jahren, am 1. Juni 1992, betraten meine Eltern und ich am Wiener Westbahnhof erstmals österreichischen Boden. Keine 200 Meter entfernt von dort, wo wir damals als Kriegsflüchtlinge angekommen sind, wohne ich heute. Im April 1992 mussten meine Eltern mit mir als Einjährigem ihre Heimatstadt Zvornik verlassen. Für Bosnier war es dort nicht mehr sicher. Die bosnische Grenzstadt an der Drina war eine der ersten, die von bosnisch-serbischen Kräften angegriffen und eingenommen wurden. Über die nächsten Kriegsmonate wurden dort tausende Menschen systematisch festgenommen, interniert, ermordet und in Massengräbern in umliegenden Bergen und Wäldern verscharrt.

Meinen Eltern gelang die Flucht nach Serbien. Dort wurden sie von Freunden in einem Haus versteckt. Über Mazedonien, wo sie sich noch jugoslawische Reisepässe ausstellen lassen konnten, kamen sie mit dem Bus über Ungarn nach Österreich. Zweimal wurden die Busse von serbischen Militärkräften und Polizei kontrolliert. Vor allem mein Vater wurde als Bosnier besonders genau inspiziert und konnte nur mit Glück einer Verhaftung und damit dem sicheren Tod entrinnen.

Wien, Thalham, Traiskirchen, St. Peter, Wolfsbach

Unsere erste Nacht in Österreich verbrachten wir am Westbahnhof. Danach kamen wir ins Erstaufnahmezentrum Thalham, Oberösterreich, wo wir einige Tage untergebracht waren, bis wir nach Traiskirchen überstellt wurden. Dort waren die Bedingungen um einiges schlechter: überfüllte, stickige, heiße Zimmer mit Stockbetten und einem Dutzend anderer Geflüchteter. Einige Tage später fanden wir in Sankt Peter in der Au im Bezirk Amstetten Zuflucht. Dort wurden schon meine Großeltern von einer Familie aufgenommen. Mein Vater, Diplomingenieur für Vermessungswesen, arbeitete als Tagelöhner auf Baustellen, in einer Mühle, half Landwirten auf ihren Bauernhöfen aus. Er musste und wollte arbeiten, denn wir hatten keinen Asylstatus, sondern waren nur als De-facto-Flüchtlinge anerkannt. Die Folge davon war nicht nur eine geringere Grundversorgung, sondern auch, dass keine Sprachkurse für meine Eltern zur Verfügung gestellt wurden.

Steiniger Berufseinstieg

Dank eines Nostrifizierungsabkommens zwischen den Technischen Universitäten Wien und Sarajevo konnte mein Vater schnell sein Diplom nostrifizieren und bekam als hochqualifizierte Arbeitskraft eine Arbeitserlaubnis. Viele andere Akademiker und Freunde meiner Eltern hatten dieses Glück nicht. Ärzte oder Juristen aus dem ehemaligen Jugoslawien kennen ihre alten Wirkungsstätten nur noch, weil sie dort Stiegenhäuser putzen oder als Bauarbeiter die Krankenhäuser, Wirtschafts- und Anwaltskanzleien bauen.

Meine Mutter, 22, als sie nach Österreich kam, hatte keine Arbeitserlaubnis. Sie musste wegen des Kriegsausbruchs ihr Jusstudium abbrechen. Erst 2002, als wir die Staatsbürgerschaft verliehen bekamen, konnte sie zu arbeiten anfangen. Ein Wechselspiel aus geringfügigen Anstellungen, Teilzeit und Arbeitslosigkeit. Nach unzähligen prekären Jobs und Weiterbildungsmaßnahmen fand sie in einem internationalen Unternehmen einen festen Arbeitsplatz. Mittlerweile ist sie Export-Managerin und für mehr als 50 Länder weltweit zuständig, fliegt von New York nach Peking, Tokio nach Dubai.

Migranten in der Politik bleiben die Ausnahme

Ich besuchte Kindergarten und Volksschule in Wolfsbach, wo wir 1993 hinzogen. Das Gymnasium besuchte ich in Amstetten. Mit 16 begann ich mich politisch zu engagieren. Geprägt von Schwarz-Blau, Haider und dem immanenten Gesellschaftsrassismus führte mich mein Weg in die Sozialistische Jugend und in die SPÖ. Als erster Migrant wurde ich 2010 Gemeinderat in Wolfsbach, einer bäuerlich geprägten und ÖVP-regierten Landgemeinde mit knapp 2.000 Einwohnern.

Rassismus am Land schwingt auch in der Kommunalpolitik immer mit. "Ich würd euch ja wählen, aber ihr habts den Ausländer auf der List'n", hörte ich immer wieder mal durch die Hintertür. Einmal machte ich im Rahmen der Nationalratswahl Hausbesuche, und eine Frau, die mich seit meiner Kindheit kennt, mich aber schon länger nicht gesehen hatte, fragte, wo ich denn wohne. Auf meine Antwort erwidert sie: "Aber wohnen da nicht die Ausländer?" Für junge Menschen, die keine andere Heimat kennen oder kennen wollen als Österreich, ist es oft schwer, wenn ihnen rassistischer Gegenwind entgegenbläst, ihnen die Heimat abgesprochen wird und Steine in den Weg gelegt werden.

Ich hatte Glück. Ich studiere Jus, wurde 2014 politischer Verbandssekretär der SJ Österreich, vergangenes Jahr wechselte ich dann nach Niederösterreich und wurde Landesvorsitzender der Sozialistischen Jugend Niederösterreich. Beide Funktionen wurden erstmals von einem Migranten bekleidet. Politik bleibt leider immer noch ein Privileg, das für viele Gesellschaftsgruppen nicht zugänglich ist. Gerade Migranten sind in der Politik unterrepräsentiert. Auch wenn es durch den natürlichen Lauf der Zeit Schritt für Schritt besser wird, müssen sich die Politik und auch die Parteien aktiv öffnen. Politische Partizipation als eines der wichtigsten Staatsbürgerrechte bleibt vielen verwehrt, und das aus banalen Gründen wie dem "ausländischen" Namen oder dem "falschen" Geburtsland im Reisepass.

Krieg und Leid als ständige Wegbegleiter

Im Herbst 2015, als die Fluchtbewegungen Österreich erreichten, stand auch ich am Westbahnhof, half, wo ich konnte, sammelte Spenden und hieß die Menschen, die unter lebensbedrohlicher Anstrengung den "sicheren" Westen erreichten, willkommen. Auch aufgrund meiner persönlichen Lebensgeschichte weiß ich, dass es nicht selbstverständlich ist, in einem sicheren Land Zuflucht zu finden. Oftmals allein, während die Familie über die ganze Welt verstreut ist, viele noch in Kriegsgebieten oder in Flüchtlingslagern sind, viele Freunde und Bekannte im Krieg gestorben sind. Und immer diese nagende Ungewissheit, ob nicht am nächsten Tag die Nachricht über einen Bombeneinschlag und den Tod von Freunden und Familie kommt.

Eine meiner Kindheitserinnerungen sind meine besorgten Eltern, am Radio hängend, Nachrichten hörend aus Bosnien. Der Krieg und das Leid blieben nicht in Bosnien zurück, sondern wurden ständige Begleiter. Meine Großmutter ist aus Srebrenica, mein Vater verbrachte in seiner Jugend oft den Sommer dort. Im Zuge des Völkermordes starben dutzende Verwandte, hunderte Bekannte und viele Freunde meines Vaters. Und trotz der Trauer ging das Leben weiter. Es musste weitergehen.

Leistungsträger, das sind wir alle

So wie mir und meiner Familie ging es vielen. Aber wir haben eine Heimat in Österreich gefunden. Wir arbeiten, zahlen Steuern, engagieren uns in Vereinen. Und Menschen aus Ex-Jugoslawien gelten als gut integriert, was auch immer das heißen mag. Migranten sind auch Leistungsträger, die Österreich zu einem großartigen Land machen. So wie jeder Tischler, jede Kassiererin, jeder Frisör, jede Schlosserin. Während Superreiche oft ihre Gewinne ins Ausland schaffen um niedrigere oder überhaupt keine Steuern zu zahlen, schaffen die arbeitenden Menschen den Wohlstand, sichern das Sozialsystem, zahlen in Pensionskassen ein. Und wenn rechte Parteien sagen, dass "die Ausländer an allem Schuld sind", dann müssen wir als Zivilgesellschaft aufstehen und "Nein" sagen. Wir sind alle Österreich, egal wie wir heißen oder woher wir kommen. (Mirza Buljubasic, 1.6.2017)