Wien – Nach Ansicht vieler Menschen gehört das Intimleben ins Licht der Öffentlichkeit. Der Verdacht lautet: Wer sich gegenüber Fragen nach dem Sexleben allzu sorgfältig bedeckt hält, habe unter Garantie etwas zu verbergen. Ein weiterer Grund spricht womöglich für das Theaterprojekt All the Sex I've Ever Had bei den Wiener Festwochen: Sex ist das menschlich Verbindende schlechthin. Jeder und jede besitzt das Recht auf Wahrung seiner oder ihrer Intimität; niemand darf sich aufgrund seiner Vorlieben aber auch etwas Besonderes dünken.

Aus solchen widerstreitenden Elementen setzt sich die Faszination für das "Tabulose" zusammen. Man weiß zwar schon alles, freut sich aber dennoch, wenn man es von anderen gesagt bekommt. Sechs reifere Persönlichkeiten haben auf der Bühne des Theater Akzent an einem Konferenztisch Platz genommen. Die ganz überwiegende Anzahl der Herrschaften ist Anfang der 1940er-Jahre zur Welt gekommen.

Höhepunkt folgt auf Höhepunkt

In atemloser Hast werden sechs (eigentlich: sieben) Liebesleben durcheilt. Höhepunkt folgt auf Höhepunkt in dieser dokumentarischen Betrachtung quer durch die Jahrzehnte. Wer Rückschau hält, wird notgedrungen auf Dinge stoßen, die der eigenen Beurteilung nicht standhalten. Umgekehrt darf man von einer "theatralischen" Veröffentlichung des Intimlebens nicht erwarten, sie sei unbedingt aufrichtig.

Stutzig macht in Darren O'Donnells (Mammalian Diving Reflex) Performance eher schon die Manie, das Publikum mit ins Boot zu holen. Zu Anfang wird einem höflich, aber bestimmt der Schwur abgenommen, nichts vom Mitgeteilten an Außenstehende zu verraten. Dann helfe uns Conchita! Ab und zu öffnet ein Referent, eine Referentin den jeweiligen Vortrag ins Publikum. Man soll dann selbst vor Mikrofon zu Protokoll geben, ob man Liebesspielzeuge zum Masturbieren heranzieht oder mit einem "Knacki" besonders wilden Sex hatte (offenbar solchen, der das geläufige Rechtsverständnis übersteigt).

Tabulose Pfade

Die Damen und Herren auf der Bühne sind hinreißend. Verschmitzt locken sie einen auf tabulose Pfade und wirken umso beredter, je öfter sie Auslassungen für sich sprechen lassen. Erzählt wird reihum, in kurzen Episoden und bekömmlichen Happen. Traurig nimmt sich nach sechs oder sieben Jahrzehnten das ehrliche Fazit aus, man brauche nun endlich "keine Männer mehr".

Eine Sexuallaufbahn ist das persönlichste Anliegen, das ein Individuum vertreten kann. Zugleich wird in den Erinnerungen der Senioren die Macht der Umstände beschworen. Auch in der Liebe macht die Sozialgeschichte die Musik. Abgesehen von der dramaturgischen Schwerfälligkeit des Abends kommt einem aber auch das Elend des Dokumentartheaters in den Sinn. Material wird angehäuft, um uns unserer grenzenlosen Offenheit zu versichern.

In Zeiten, in denen ein verunglückter Facebook-Auftritt in Wien-Neubau die Grundlagen des sittlichen Zusammenlebens in ganz Österreich zu bedrohen scheint, wäre es bestimmt nicht verkehrt, nach dem Aufkommen einer "Prüderie 2.0" zu fragen. Wer ehrlichen Herzens vor seine Mitmenschen tritt, dem darf nichts peinlich sein. Die Frage ist, ob sich eine der Tendenz nach geheuchelte Liberalität nicht selbst um Genüsse betrügt. (Ronald Pohl, 31.5.2017)