Es sind oft die stillsten Bilder, die sich aus den rätselvollen Filmen des russischen Regisseurs Andrei Tarkowski ins Gedächtnis einbrennen. Im Wasser schlingerndes Gras am Anfang von Solaris etwa, eine wie von Zauberhand in Bewegung versetzte Wiese in Der Spiegel. Wo wenig passiert, wird die kleinste Bewegung zum Ereignis. Umso mehr in einer Welt, die wie aus einem Traum gefallen und doch zum Angreifen konkret scheint.

Improvisieren im Geiste Andrei Tarkowskis (v. l. n. r.): François Couturier, Anja Lechner, Jean-Marc Larché und Jean-Louis Matinier.
Foto: ECM

Ein Musiker, der sich diese Prinzipien zu eigen gemacht hat, ist der französische Pianist François Couturier. Mit seinem 2006 zu Ehren des russischen Filmemachers gegründeten Tarkovsky Quartet beweist er, dass das sanfte Tropfen von sich minimal verändernden Akkordzerlegungen genauso einen hypnotischen Sog entfalten kann wie langsame, mäandernde Kamerafahrten.

Die Musik des Tarkovsky Quartets steht dabei auf eigenen Beinen. Statt spezifische Szenen zu vertonen, evozieren Couturier, Saxofonist Jean-Marc Larché, Akkordeonist Jean-Louis Matinier und Cellistin Anja Lechner mit sparsam in den Raum gehängten Tönen Atmosphären, wie man sie aus Filmen und Träumen zu kennen vermeint. Konkrete Vorbilder lassen sich keine festmachen. Auch nicht bei jener Musik, die Tarkowski tatsächlich in seinen Filmen verwendete, den elektronischen Soundeffekten von Eduard Artemjew oder Johann Sebastian Bach, einem seiner Lieblingskomponisten.

ECM Records

Verrieten zumindest noch die Titel auf den ersten beiden Quartet-Alben filmische Anknüpfungspunkte, zu denen neben Tarkowski seelenverwandte Regisseure wie Michelangelo Antonioni, Luchino Visconti und Ingmar Bergman zählen, lässt das jüngste Album Nuit blanche (ECM/Lotus) solche Bezüge im Dunkeln. Alles kreist um den Topos Traum. Gleich sechs der insgesamt 17 Stücke tragen ihn im Titel und sind allesamt freie Improvisationen.

Auch bei einer Livedarbietung des neuen Albums im Wiener Porgy & Bess betonte Cellistin Anja Lechner die großen Freiräume, die Couturier seinen Mitmusikern lässt. Umso wundersamer, dass sich der Anteil von Komposition und Improvisation beim Hören meist nicht klar ausmachen lässt. Am ehesten legt man noch beim einstimmigen Spiel mehrerer Musiker den geschriebenen Anteil offen, ansonsten werden die Grenzen meist unauffällig überschritten, Spuren verwischt.

Jedes Geräusch zählt

Betörend einfache und einfach betörende Melodielinien werden von Instrument zu Instrument gereicht, variiert, verstärkt und ausgedünnt, ineinander verwoben, wieder aufgelöst. Jeder Ton zählt, auch jedes Geräusch. In der Ausreizung an Klangmöglichkeiten gehen die Musiker tatsächlich wie beim Kreieren der Tonspur eines Films zu Werk.

An Gehalt mangelt es der Musik indes nicht, auch nicht den dieses Mal oft relativ kurzen Stücken, Traumskizzen, die eine bestimmte Stimmung anschlagen und in ein bis drei Minuten immer weiter verdichten. Länger sind nur eine Komposition Vivaldis, ein anonymes Stück aus dem 16. Jahrhundert sowie das von Couturier komponierte Kernstück: Urga trägt einen Filmtitel, allerdings nicht von Tarkowski, sondern von dessen Landsmann Nikita Michalkow, der im gleichnamigen Film die Geschichte eines Hirten in der mongolischen Steppe erzählte. Die elf Minuten, zu denen der Film Couturier inspiriert hat, mögen in ihrem Tonfall elegisch sein, vergehen aber wie im Flug. Oder im Traum.

Ingmar Bergman hat über seinen Kollegen Tarkowski gesagt: "Wenn der Film nicht Dokument ist, ist er Traum. Darum ist Tarkowski der Größte. Er bewegt sich im Raum der Träume mit schlafwandlerischer Sicherheit, er erklärt nicht." Besser lässt sich auch das Tarkovsky Quartet und seine Nuit blanche nicht würdigen. (Karl Gedlicka, 1.6.2017)