Aus der Style Bible des heurigen Life Balls: "Die sieben Todsünden erinnerten den Maler Otto Dix an die Verdorbenheit und Dekadenz, die für ihn im Berlin der Zwischenkriegszeit allgegenwärtig waren. Doch wer bestimmt, was Sünde und was Tugend ist? Wer hat die Macht, für alle anderen zu entscheiden?"

Foto: Liefe Ball 2017

Ich glaube an das Patriarchat. Nicht in dem Sinn, dass ich mich dazu bekenne, sondern in dem Sinn, dass ich den Begriff für eine zutreffende Bezeichnung ubiquitärer gesellschaftlicher Verhältnisse halte, in denen Frauen unterdrückt werden. Da sich diese Unterdrückung historisch, regional, kulturell und klassenspezifisch in ganz unterschiedlicher Weise manifestiert, haben sich Symbole herausgebildet, die sowohl als Zeichen der Unterwerfung als auch der Befreiung beansprucht und zugeschrieben werden. Sie betreffen im Wesentlichen die Sphäre des Sexuellen: Die Frau als Begehrende oder als Begehrte.

1981, ein Strand in der Nähe von Istanbul: Türkinnen in Tanga-Bikinis und Türkinnen in Pluderhosen und Hidschab stehen wenige Meter voneinander entfernt im hüfttiefen Wasser und lachen. Ich wäre am liebsten nackt, respektiere aber kulturelle Unterschiede und gehöre daher äußerlich der Bikinifraktion an. Die Frage der symbolischen Ordnung ist dabei, ob sich Frauen verhüllen oder entblößen, weil sie das angenehm finden, oder ob sie sich damit den Wünschen von Moralhütern oder Lüstlingen unterwerfen.

Wer soll das entscheiden?

Auch auf einem Sujet der Life Bible des diesjährigen Life Balls wird gefragt: "Who's to judge?" – Ist das eine Anspielung auf 2014, als der Österreichische Werberat anlässlich des Life-Ball-Sujets einer/s nackten Transsexuellen von David La Chapelle seine Verfahrensordnung änderte? Seit 2015 ist er auch für Kunstsujets zuständig, sofern diese ein Produkt oder eine Veranstaltung bewerben, die nicht ausschließlich dem Bereich Kunst zuzuordnen sind, und kann bei Unzuständigkeit zumindest noch eine Distanzierung aussprechen.

Das mag noch kein Schritt zur Sittenpolizei sein, aber mir wird's mulmig.

Sexualisierte Werbung

Am 21. April 2017 hat sich eben dieser Werberat für einen sofortigen Stopp beziehungsweise sofortigen Sujetwechsel der Palmers-Kampagne für "Osterhöschen" ausgesprochen. Begründet wurde das unter anderem mit einem Verstoß gegen geschlechterdiskriminierende Werbung, und zwar mit dem Wortlaut:

"2.1.1. Geschlechterdiskriminierende Werbung (sexistische Werbung) liegt insbesondere vor, wenn,
d) die Person in rein sexualisierter Funktion als Blickfang dargestellt wird, insbesondere dürfen keine bildlichen Darstellungen von nackten weiblichen oder männlichen Körpern ohne direkten inhaltlichen Zusammenhang zum beworbenen Produkt verwendet werden."

Empfinde tatsächlich nur ich diese Begründung als inkohärent? Und nein: Ich möchte wirklich keinen Beifall von Georg Schildhammer oder Felix Baumgartner, deren Kritik an der Kritik am Sujet sich auf verbales Feministinnenklatschen beschränkt. Ich krieg nur den Zusammenhang zwischen Sexismus (in der Begründung als "Geschlechterdiskriminierung" erläutert) und der bildlichen Darstellungen von nackten weiblichen oder männlichen Körpern nicht gebacken. Wäre dafür nicht eher der Begriff sexualisierte Werbung angebracht?

Inwiefern ist die Darstellung von nackten weiblichen oder männlichen Körpern geschlechterdiskriminierend? Weil man beim Anblick des Genitales theoretisch eine Unterscheidung (Diskriminierung) treffen und den/die Trägerin als Mann oder Frau interpretieren könnte? Werden Nacktbilder verboten, um Vorurteile bezüglich der Geschlechter abzuschaffen?

Und auch Männer erhoffen sich eine Frau, die die klare und strukturierte Denkweise des Mannes, die oftmals mit wenigen Worten auskommt, nicht als Beleidigung oder Ignoranz begreift, sondern verstehen lernt, dass für ihn Kommunikation im Sinne von regem Wortaustausch lange nicht so wichtig ist wie seine ganz persönliche Art der Verständigung, nämlich Sex.

Also doch? Mund halten und Beine breitmachen? Die Unerfüllbarkeit des – unterstellten – Begehrens nach verbalem Austausch akzeptieren und sexuellen Austausch gewähren, um überhaupt irgendeinen Austausch zu kriegen?

Das Zitat stammt von einem, der vorgibt, es wissen zu müssen: Es ist der Leseprobe des Buches "Frauen wollen reden, Männer Sex. Wie verschieden sind wir wirklich, Herr Buschbaum?" von Balian Buschbaum entnommen. Und der war bis 2007 als Yvonne Buschbaum eine deutsche Leichtathletin im Stabhochsprung. Wie verschieden sind wir wirklich?

Die kulturellen Konnotationen von Weiblich und Männlich sind ein fließendes Konstrukt – wie die von Familie, Volk, Rasse und vielem mehr. Das ist es, was Judith Butler in "Gender Trouble" herausgearbeitet hat. Dass nun jemand, der infolge der medizinischen Entwicklung die Entscheidung zu physiologischen Änderungen an seinem Körper treffen konnte, damit prädestiniert sei, diese äußerlichen Zuschreibungen von innen zu bestätigen oder zu widerlegen, verfestigt die naive Verknüpfung physiologischer Attribute mit mentalen Fähigkeiten. Der kulturellen Leistung der Imagination wird dadurch ihre Bedeutung, ja geradezu die Existenz abgesprochen.

Sexistische Feststellung

"Die klare und strukturierte Denkweise des Mannes": Eine sexistischere Feststellung ist kaum vorstellbar. Wie geht es mir damit als Person, die aufgrund ihres hormonellen Status, ihrer Gene, ihrer primären und sekundären Geschlechtsmerkmale, ihrer Gebärfähigkeit und ihrer Mutterschaft als Frau definiert wird und deren größte Begeisterung – frei nach Helmut Schmidt – die nüchterne Leidenschaft zur praktischen Vernunft ist?

Ist diese Leidenschaft ohne klare und strukturierte Denkweise vorstellbar? Da lässt mich die Imagination im Stich. Der einzige Ausweg aus dem persönlichen Identitätsdilemma wäre, mich als Mann mit Möse zu definieren. Allerdings als schwuler, denn mein sexuelles Begehren richtet sich an biologische Männer. Dass Frauen zugleich denken können und ficken wollen, hat da keinen Platz. Oder maximal ein kleines Winkerl.

"Mein gesamter Daseinszustand hat sich verändert, weil ich zu meiner Sexualität geworden bin: weiblich, hetero, ich will Männer lieben, gefickt werden. Ist es irgendwie möglich, dass sich damit so leben ließe, wie ein schwuler Mensch lebt, also mit Stolz?", schreibt die amerikanische Filmemacherin Chris Kraus in ihrem Roman "I love Dick".

Vermutlich nicht, antworte ich gedanklich und nehme mich selbst an der Nase, weil weibliches Begehren auch für mich in einer tiefen Schicht unbewussten Bewusstseins eine schambehaftete Angelegenheit sein dürfte. Vor vier Jahren habe ich den gemeinsten Verriss meines Lebens geschrieben. Ein Satz aus dem rezensierten Werk ist mir noch gegenwärtig: "Ich lebe also in freier Liebe. In zwei wilden Beziehungen gleichzeitig, habe Sex mit dem einen, bin verheiratet mit dem anderen, die beiden haben Sex miteinander. Muss man ein halbes Jahrhundert alt werden, um dieses Hohelied der Liebe zu entdecken?" Das ist nicht besonders elegant formuliert, aber warum war ich so fies, als Schlusssatz zu schreiben, "man ertappt sich bei dem Verdacht, in die Ausbreitung einer nicht deklarierten Wunschphantasie geraten zu sein"?

Halte ich die Erfüllung dieser Fantasie für so unwahrscheinlich wie die Verwandlung eines Kürbisses in eine Hochzeitskutsche und ist sie mir deshalb peinlich? Ich glaube eher, dass es mir darum ging, dass dieser Roman am künstlerischen Anspruch scheitert, weil kein Stückchen Enttäuschung in die glatte Geschichte ragt. Christ Kraus dagegen hat genug davon zu bieten: Chris will Dick ficken. Das kriegt sie nach einiger Mühsal auch auf die Reihe. Aber danach holt sie sich ihre Watschen: "Ich habe den Sex nicht gebraucht", belltest du. Und dann ein Nachtrag, ganz Gentleman: "Obwohl es wirklich sehr schön war."

Tut es manchen BetrachterInnen der Osterhöschen weh, dass in der imaginierten Einladung zugleich die Möglichkeit der Zurückweisung enthalten ist?

Da wird kein Rasierwasser mit dem Bild einer nackten Frau angeboten, das suggeriert, dass Männer, welche dieses erwerben, willige Sexpartnerinnen quasi miterstehen, sondern spitzenbesetzte Unterhosen, die eventuell die Botschaft mittransportieren, dass junge Frauen, die so ein Höschen kaufen, damit das erotische Interesse von Männern wecken. Und?

Bevor jemand die Pädophilenkeule hervorholt: Es ist unerträglich, wenn sexuelle Befriedigung über Autorität durchgesetzt wird, und selbst die peinvollste sexuelle Not der begehrenden Autorität ist keine legitime Ausrede für einen derartigen Machtmissbrauch. Deshalb ist Corinna Milborns Hinweis auf die Ähnlichkeit mit Angeboten von MenschenhändlerInnen der einzige nachvollziehbare Einwand gegen die inkriminierte Werbung. Aber dann müsste die Begründung des Werberats für seine Ablehnung lauten, dass das Sujet an die Botschaften von MenschenhändlerInnen erinnert und nicht, dass es geschlechterdiskriminierend sei.

Grammatikalisch ist – auch sexuelles – Begehren ein Neutrum, aber symbolisch?

Mit Anfang zwanzig hat mich ein Theatermacher zum Textlernen engagiert. Bei der gemeinsamen Probe mit einer Schauspielerin feuchtete diese, bevor sie umblätterte, ihren Zeigefinger an. Der Theatermacher kniete sich neben sie, hielt ihr seine frisch angespuckten Finger unter die Nase und sagte: "Bedien' dich." Sie kicherte und feuchtete den Finger brav mit seiner Spucke an. Wenige Tage später erzählte er aufgebracht, sie hätte nach einer Einzelprobe – in seinem Loft, das zugleich als Probenraum, Küche und Schlafzimmer diente – gesagt: "Ich möchte mir dir schlafen."

"Was macht man da?", rief er aus – noch in der Erinnerung daran erschrocken. "Zwei Wochen vor der Premiere! Da konnte ich doch nicht aus!" Tags darauf hätte sie nach der Probe gefragt, ob sie noch bleiben könne, und er habe knapp und scharf mit "Nein!" geantwortet.

Symbolische Ordnung

Den interessantesten Ansatz zur Deutung der gegenwärtigen symbolischen Ordnung des sexuellen Begehrens verdanke ich einem Blogeintrag von Sama Maani über "sexuelle Autonomie". Er zitiert neuere Diskurse, "in denen Sexualität kaum mehr mit Begehren und mit körperlicher Lust zu tun zu haben scheint und die sich mehr und mehr in Reden über 'sexuelle Identität' erschöpfen", und resümiert: "Das narzisstische Interesse am Selbst(bild) verdrängt die Lust des Körpers und das Begehren von real existierenden Objekten."

Tatsächlich haben die von mir im Zuge einer Recherche befragten Transgenderpersonen durchgehend angegeben, wenig oder gar keine Sexualität mit anderen zu pflegen. Es gibt gewiss keinen Grund, die Lebensform einer Transgenderidentität deshalb in irgendeiner Weise zu verunglimpfen. Menschen die sich – aus welchen Gründen und in welchem Ausmaß auch immer – für ein zölibatäres Leben entscheiden, verdienen jeden Respekt. Aber ich habe es satt, dass Sittlichkeitsforderungen immer wieder über einen scheinbaren Geschlechterdiskurs verhandelt werden.

Vielleicht wird sich das ändern, wenn eine gerechte Machtbalance zwischen der kulturellen Konnotation von "Weiblich und Männlich" erreicht ist. (Christa Nebenführ, 3.6.2017)