Tennis-Halfpipe

Foto: Frank Kunert

Realistisch, detailgetreu, wie das wirkliche Leben! Wer nach solchen Kriterien Fotos beurteilt, könnte glauben, etwa bei Andreas Gursky besonders fündig zu werden. In vielen der quadratmetergroßen Bilder des Künstlers finden sich auch nebensächliche Kleinigkeiten scharf abgebildet, in jedem der Gesichter vermeint man einen Gefühlszustand zu erkennen: So muss es gewesen sein.

Der Haken dabei ist allerdings, dass Gursky seine Fotos oft montiert, nachbearbeitet, dupliziert, nachinszeniert. Ob Madonna-Konzert, Boxenstopp in der Formel 1 oder Hochhäuser in Paris, der Betrachter weiß nicht, wo die Dokumentation aufhört und die künstlerische Freiheit beginnt. Je scheinbar wirklichkeitsnäher die fotografische Technik, desto vielfältiger die Möglichkeiten zu manipulieren.

Tatsächlich ist der Anspruch, dass Fotos die Realität abbilden, nicht erst seit Gursky, sondern von Anfang an problematisch. Und erst recht stellt sich die Frage, ob und wie viel die technisch reproduzierbare Lichtbildnerei mit Wahrheit zu tun hat.

Zweidimensional

Wieso soll die Fotografie besonders gut das wiedergeben, was um uns herum existiert? Das klingt zwar auf ersten Blick (!) so selbstverständlich, dass sich eine Antwort zu erübrigen scheint. Machen wir nicht dauernd Bilder, um uns und andere der Tatsächlichkeit einer Party, eines Sonnenuntergangs oder einer Kathedrale zu versichern? Zurzeit werden grob geschätzt mehrere Milliarden Fotos pro Tag ins Netz geladen, Tendenz steigend.

Doch das beantwortet die Frage nicht, was daran wirklich und was wahr ist. Machen wir zunächst einige technische Einschränkungen. Fotos sind zweidimensional. Sie waren fast ein Jahrhundert lang nur schwarzweiß, bestenfalls nachkoloriert.

Was immer ihr Objekt ist, sie halten höchstens fest, was zu sehen ist, keinen Klang, keinen haptischen Stimulus, keinen Geruch, in Normalfall keine Bewegung (Film tut das schon; das wäre eine andere Geschichte) – sie halten nur einen Moment fest. "Darin, dass sie Augenblicke überprüfbar macht, die der normale Zeitablauf unverzüglich enden lässt", liegt Susan Sontag zufolge "die Macht einer Fotografie".

Fortsetzung der Malerei

Wie Sontag in ihrem grundlegenden Buch "Über Fotografie" (im amerikanischen Original 1977 erschienen) ausführt, folgt daraus keineswegs, dass Bilder die Welt zeigen, wie sie ist, fast im Gegenteil. Von Anfang an, seit den ersten Bildern von Niépce und Daguerre, gab es verschiedene Ansichten, was von dem neuen Medium zu halten ist und wozu es gut ist.

Für die einen war es die Fortsetzung der Malerei mit modernen Mitteln, sozusagen Instant-Gemälde. Dazu passte der Hang vieler früher Fotografen, das Vorgefundene zu idealisieren, statt zu versuchen, es zu re-produzieren – Kalotypie, schönes Bildwerk, nannte der englische Fotopionier Fox Talbot die neue Technik.

Andere hielten die Kamera zwar für eine Möglichkeit, die "objektive Wirklichkeit" zu zeigen, wie sie ist (nicht zufällig heißen die Linsen an den Apparaten Objektive). Die Person, die den Verschluss auslöst, würde dann höchstens entscheiden, wann dieses unpersönliche Bild des Vorgefundenen festgehalten wird.

Doch darin steckt schon der Widerspruch. Denn natürlich ist diese Entscheidung ebenso subjektiv wie der Bildausschnitt, der Winkel, die Brennweite, die der Fotograf wählt: Was ist im Rahmen, was bleibt draußen? "Framing" ist ein Begriff aus den Sozialwissenschaften, der genau das meint: Wir denken und sehen Dinge immer innerhalb eines abgesteckten Feldes und lassen anderes weg.

Manipulation

Selbst wenn man diese Rahmen-Bedingung außer Acht lässt: Auf Bildern ist keineswegs immer die vorgefundene Außenwelt zu sehen, wie sie im Moment des Abdrückens gebannt wurde. Bereits in den 1850er-Jahren, schreibt Sontag, hat ein Fotograf eine Methode des Retuschierens erfunden – von Negativen, nicht erst auf dem Papier! "Die Nachricht, dass die Kamera lügen könnte, sorgte dafür, dass es sehr viel populärer wurde, sich fotografieren zu lassen" – gute eineinhalb Jahrhunderte vor der Selfie-Generation.

Der angeblich so große Unterschied zwischen analoger und digitaler Fotografie relativiert sich hier erheblich. Für beide Techniken gelten dieselben optischen Gesetze. Beide bannen die Außenwelt, also Licht, auf ein Trägermaterial – Film oder Sensor –, auf dem man zunächst gar nichts sieht.

Erst dank chemischer bzw. elektrischer Prozesse entsteht das Foto. Es stimmt, dass wir heute Digitalbilder auf viel einfachere Weise manipulieren können, aber möglich war das immer schon, auf Papier und sogar, wie gesagt, am "Originalnegativ".

Dieses kann man, im Unterschied zu digitalen Sensoren, sinnlich überprüfen – wenn man Glück und Zugang hat. In manchen Fällen gibt es keines mehr, und in anderen Fällen vertrauen wir darauf, dass irgendwer es wohl nachgeprüft haben wird. Keiner von uns hat die Negative von Stalin mit bzw. ohne Trotzki an seiner Seite gesehen – von den berühmten Fotos, aus denen der in Ungnade gefallene Politiker herausretuschiert wurde. Trotzki hätte genauso vorher hineinmanipuliert werden können – eine rein theoretische, aber nicht unmögliche Annahme.

Wahrhaftigkeit als moralisches Ideal

Wo bleibt also die Wahrheit des Bildes? Aus sich heraus beweist es gar nichts, und Bildunterschriften können auch lügen wie gedruckt, was zigfach bewiesen ist. Ganz abgesehen davon, dass niemand klar sagen kann, was "Wahrheit" eigentlich ist, auch und gerade die Philosophen nicht. Unter ihnen gibt es endlose Debatten, was diesen Begriff ausmacht. Am leichtesten machen es sich Logiker, die feststellen, dass "a ist nicht gleich nicht-a" ein wahrer Satz ist. Damit ist dem Fotobetrachter auch nicht geholfen.

Vielleicht hilft vielmehr das Bemühen, als Fotograf wahrhaftig zu arbeiten. Das wäre dann nicht ein Festhalten an einem absoluten Begriff des Wahren, sondern der immer nur vorläufige Versuch, Fehler und Irrtümer zu vermeiden und sich wahren Aussagen wenigstens anzunähern.

Damit sind wir in der Nähe der Ideale von Berichterstattung, ob mit Bildern oder ohne. Für Sontag ist Wahrhaftigkeit (truth-telling) in der Fotografie ein moralisches Ideal, "das auf literarische Vorbilder des neunzehnten Jahrhunderts und die (damals) neue Gattung des unabhängigen Journalismus zurückgeht".

Das ist keine "höhere Wahrheit", wie sie der Kunst angeblich eigen ist, aber immerhin der hartnäckige Versuch, Phänomenen und deren Ursachen auf den Grund zu gehen, egal, ob Madonna-Konzert oder Mordfall. Im besten Fall leisten Fotos dazu ihren Beitrag. (Michael Freund, 3.6.2017)