Ein Kindheitstraum

Foto: Frank Kunert

Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Im folgenden Text stimmen einige Namen und einige Details nicht, und zwar nicht, weil sie erfunden wären – sondern um die Identität der Personen zu schützen, die hier beschrieben werden. Das ist ein gängiges Stilmittel, man kennt es aus dem Vorwort zu Romanen und aus dem Abspann von Filmen: Übereinstimmungen mit lebenden Personen seien rein zufällig und unbeabsichtigt.

Wirklich? Heißt es denn nicht immer, dass das Leben die besten Geschichten schreibe? Ja, schon. Andererseits: Es sind durchaus reale Menschen, die die Geschichte ihres Lebens gerne umschreiben. Um in einem schöneren, einem besseren Leben zu leben.

Peter zum Beispiel – er heißt in Wirklichkeit anders, aber bei ihm war schon immer unklar, was wirklich und was erfunden war. Wir waren beide 16 Jahre alt, als wir einander kennengelernt haben; am ersten Schultag der siebenten Klasse war das. Peter, Sohn entfernter Bekannter meiner Eltern, kam neu in unsere Klasse, und ich wurde gebeten, ihn ein wenig zu betreuen und in die Klassengemeinschaft einzuführen.

Als ob Peter das gebraucht hätte! Wir trafen einander 20 Minuten vor Schulbeginn, und in diesen 20 Minuten breitete er vor mir eine beeindruckende Biografie aus: Eigentlich hieße er ja Pete, sei in London aufgewachsen, wo sein Vater an der österreichischen Botschaft gearbeitet habe. Ob ich das denn nicht wisse? Nein, wusste ich natürlich nicht, der Vater war doch meines Wissens Ministerialrat im Gesundheitsministerium. Ja, im Moment sei das auch so. Aber bis vor kurzem sei er eben in England gewesen.

Traumwelt schützen

Und er, Pete, habe die Jahre dort genutzt, um sein Gitarrespiel zu vervollkommnen und am Abend in den Londoner Musiklokalen herumzuhängen. Im damals legendären Marquee-Club sei er sogar mit seinem Idol Pete Townshend bei einer Jam-Session auf der Bühne gestanden. Unglaublich. Und natürlich nicht wahr – aber immer wieder unter Schulkollegen weitererzählt. Mit Details ausgeschmückt, die nahelegten, dass Pete mit jenem Club in der Wardour Street bestens vertraut war. Das war Anfang der 1970er-Jahre, solches Wissen konnte man sich damals nicht ergoogeln.

Da musste man schon alle möglichen Musikzeitschriften lesen – und sich die Details dann auch gut merken. Pete tat das offensichtlich, sein Wissen über die Londoner Szene war so beeindruckend, dass nicht besonders aufgefallen ist, dass seine Englischkenntnisse bestenfalls mittelmäßig waren. Er sei, weil er ja dort gelebt hatte, eben nur mit dem Alltagsenglisch vertraut, mit der Literatur habe er es nicht so.

Pete war sehr erfinderisch, wenn es galt, seine Traumwelt zu schützen und Zweifel an der von ihm verbreiteten "Wahrheit" zu zerstreuen. Auch solle man den Vater bitte nicht auf dessen – streng vertrauliche – Mission in London ansprechen.

Als wir einige Monate später gemeinsam in London waren, wo sich Pete im Unterschied zu mir gar nicht auskannte, kam er nicht umhin, mir zu gestehen ("Du weißt nicht, wie schwer mir das fällt"), dass er noch nie da gewesen war. Andererseits: Kaum dass wir angekommen waren, hatte Pete eine Gitarre organisiert und sich, umschwärmt von einigen Mädchen, als Straßenmusiker auf dem Piccadilly Circus niedergelassen.

Überhaupt die Mädchen! Was Pete an sexuellen Abenteuern zu schildern wusste, das ging auf keine Kuhhaut – und war in der damals erhältlichen Pornoliteratur auch nur schwer zu finden. Überflüssig zu sagen, dass Petes Liebesabenteuer frei erfunden waren. Andererseits: Ganz unglaubwürdig waren sie auch nicht: Pete mit seinen langen, lockigen Haaren war ein Schwarm der Mädchen; er konnte ja auch sehr charmant sein, konnte die interessantesten Geschichten auftischen.

Besonders sympathisch

Verliebte Menschen neigen dazu, derartige Geschichten auch nicht nachzuprüfen. Vielmehr ist es ja ganz angenehm, eine Zeit lang in der gut erfundenen und schön ausgemalten Traumwelt eines anderen Menschen zu leben. Es muss für Pete recht aufwendig gewesen sein, diese recht eigentümliche Welt zu konstruieren und auszuschmücken – wobei er es gekonnt vermieden hat, sich der Realität zu stellen.

Regelmäßig fragten mich Petes Freundinnen, warum der umschwärmte Mann, der doch mit so vielen Frauen Sex gehabt hat, ausgerechnet mit der aktuellen Freundin nicht ins Bett ginge. Was sagt man da als guter Freund? Dass das doch ein Zeichen besonderer Wertschätzung sei; dass Pete eben mit einer Frau, die er wirklich mag, nicht gleich schläft. Und schon bastelte man mit an der Scheinwirklichkeit, in der es sich Pete mehr oder weniger bequem gemacht hatte.

Natürlich war nicht nur mir klar, dass vieles in Petes Leben nicht der Wahrheit entsprechen konnte. Aber eigentlich wollte es niemand so ganz genau wissen – nicht in der Schulzeit, seltsamerweise auch nicht im späteren Berufsleben, in dem Pete eine Zeit lang recht erfolgreich in der Werbewirtschaft gewesen ist.

Vielleicht stimmt es ja, dass Menschen belogen werden wollen – und dass Lügner besonders sympathisch wirken. Zumindest eine Zeitlang – wobei die Zeitspanne durchaus lang sein kann. Schon Heinrich Heine hat ja 1822 die vertrackte Geschichte "Ein Jüngling liebt ein Mädchen, / die hat einen anderen erwählt; / der andere liebt eine andere, / und hat sich mit dieser vermählt" in Verse gesetzt. Dass ein Jüngling "übel dran" wäre, wie Heine dichtet, wenn er gewissermaßen nur die zweite Wahl der Braut ist, ist allerdings nicht zwingend.

Lieben und lieben lassen

Gerade in Liebesdingen überlagern sich ja die unterschiedlichen Wahrnehmungen der wahren Verhältnisse. Bei Dagmar und Klaus zum Beispiel. Er liebt sie. Sehr sogar. So sehr, dass er akzeptiert, dass sie eigentlich einen anderen liebt. Den sie nicht kriegen kann und sich damit tröstet, dass sie mit einem Dritten ein Verhältnis eingeht. Klaus könnte das wissen, es ist ja mehr oder weniger offensichtlich, was da so läuft.

Aber muss er es wissen? Immerhin ist er mit einer schönen, beruflich erfolgreichen Frau verheiratet, sie haben miteinander ein schönes Haus – und insgesamt wohl auch ein schönes Leben. Obwohl es streng genommen nicht das wahre Leben ist, sondern auf der stillschweigenden Übereinkunft begründet ist, dass man die Wahrheit eben nicht ausspricht.

Dagmar sagt: "Klaus liebt mich – und ich lasse es zu." So leben beide wenn schon nicht in wahrer Liebe, so doch in der bestmöglichen Scheinwelt. Und Pete? Er nennt sich wieder Peter und führt ein gutgehendes Wirtshaus. (Conrad Seidl, 5.6.2017)