Frank Kunert lässt in seiner Werkstatt die Liebe zum Detail walten. Wenn er nach wochen- oder monatelanger Vorbereitung auf den Auslöser der Großformatkamera drückt, muss die Illusion perfekt sein.

Foto: Frank Kunert

Keine Szene für sich, sondern nur eine kleine Korrektur am Modell für ein Bild namens "Taucherparadies".

Foto: Elizabeth Clarke

Na bravo, welch ein baulicher Fauxpas! Da, an diesem Hochhaus, dessen Balkone auf der falschen Seite angebracht sind, dort, wo gar keine Ausgänge sind. Und die Balkontüren? Gehen dafür auf der anderen Seite ins Leere. Lebensgefährlich ist das, ein Skandal! Wer in aller Welt hat sich denn das nur wieder ausgedacht? Ich mein’, wenn dieses komplett verhaute Wohnhaus nicht im STANDARD abgebildet wäre (gleich da unten, schauen Sie selbst), tät’ man doch meinen, das kann überhaupt nicht wahr sein.

"Mit Balkon"
Frank Kunert

Nun, sie ahnen es unter Umständen schon: ist es eh nicht. Man muss jetzt keinem Architekten ein Hassposting hinterlassen. Der, der sich diese Pointe ausgedacht hat, ist der Fotograf Frank Kunert. Geboren 1963 in Frankfurt am Main, hat er sich seit den 1990er-Jahren auf eine Art der Fotografie spezialisiert, bei der es immer wieder auf den zweiten Blick ankommt. Seine zuweilen täuschend realistisch anmutenden Szenen, die durch die Schwerpunktausgabe Wahrheit führen, beruhen nämlich samt und sonders auf Miniaturmodellen.

Keine heile Welt

Was man hier auf den ersten Blick für Schnee hält, ist eigentlich Salz; die Verschlusskappe eines Textmarkers wird zum Mistkübel, ein Stromkabel zum Handlauf einer Stiege. Kunert lässt einigen Einfallsreichtum walten, wenn er in seiner zwanzig Quadratmeter großen Werkstatt im deutschen Boppard miniaturisierte Stadtansichten, Villeninterieurs, Hochhäuser konstruiert. Nur in Ausnahmefällen greift er auf Spielzeugmöbel oder Modelleisenbahnbedarf zurück.

"Grün ist die Hoffnung"
Frank Kunert

Eine heile Puppenstubenwelt hat Kunert aber sowieso nicht im Sinn. Der Abgrund respektive das Abgründige ist in seiner surrealen, schwarzhumorigen Bildwelt nie fern. Da gibt es dieses Bild einer halsbrecherisch steilen Treppe mit mangelhaftem Geländer, an deren oberem Ende verlockenderweise ein Baum wächst; Grün ist die Hoffnung nannte Kunert es. Da gibt es diesen Treppenlift, der gehörig über sein Ziel hinausschießt, vermag er seinen Passagier doch direkt beim offenen Fenster hinaus gen Himmel zu befördern (Hoch hinaus).

"Hoch hinaus"
Frank Kunert

Aber: welchen Passagier eigentlich? Tatsächlich sind Kunerts Bilder von jedweden Figuren befreit. Früher, als er mit seinen "Fotografien kleiner Welten" begonnen hat, hat er ab und zu mit Figürchen gearbeitet, erzählt der Künstler. Er habe dann allerdings festgestellt, dass es diese gar nicht brauchte. "Die Architekturen sind Stellvertreter für das, was sich in ihnen abspielt", sagt er. Sie stehen für die kleinen und größeren Tragödien des Alltags, für zwischenmenschliches Aneinandervorbeireden, aber auch für Melancholie oder die Angst vor dem Tod. Das Bild vom Treppenlift etwa symbolisiert für Kunert die Ambivalenz zwischen "dem Gefühl, Freiheit zu erlangen, und der Vorstellung, dass hier jemand stirbt".

Spielerischer Angriff auf das wehrlose Zerbrechliche

Davon, dass "Dinge aufeinandertreffen, die nicht zusammenpassen", erzählt das Bild Golden Goal: Einige Fußbälle sind just im Schaufenster eines "Glas-Porzellan"-Geschäfts gelandet, was einerseits freilich blöd, andererseits aber auch kein Wunder ist. Schließlich prangt an der Seitenwand des Geschäftshäuschens eine "Torwand", also eine Plane mit zwei Löchern, wie sie Fußballer fürs Training nutzen. "Hier wird etwas Zerbrechliches, das sich nicht wehren kann, Opfer eines Angriffs, der dann auch etwas Spielerisches hat", so formuliert Kunert eine mögliche Interpretation dieses Bildes.

"Golden Goal"
Foto: Frank Kunert

Wie genau allerdings die Torwand auf den Porzellanladen kam? Derlei Rätsel überlässt er gerne dem Betrachter. Kunert geht es vor allem darum, eine "verdichtete Ruhe" zu schaffen, wenn er Ideen aus dem Notizbuch "in Architektur überträgt". Von "Bühnenbildern" spricht er bei seinen Modellen auch, von Kulissen, in denen die Fantasie auf Spurensuche gehen kann: Wer lebt hier? Wer schaut (oder fliegt) hier gleich aus dem Fenster?

Es sind dies Fragen, die sich der Künstler auch selbst stellen mag, wenn er sich im Zuge seiner Recherchen nicht nur ins Internet, sondern auch zu Spaziergängen an den Stadtrand aufmacht. Wenn es ihn hinzieht zu diesen oft schäbigen (Wohn-)Bauten, die "man normalerweise gar nicht so wahrnimmt". Die beredten Verfallsspuren an ihnen, die gedachten Alltagsgeschichten in ihnen sind es, die den Künstler inspirieren, wenn er später in der Werkstatt fiktive Architekturen entwirft.

Der Blick durch die Kamera als Maßstab

Bis ein Bild fertig ist, vergehen Wochen, manchmal Monate. Bereits in der Konzeptionsphase beginnt Kunert mit Modell-Entwürfen, schneidet Leichtschaumplatten zu Wandteilen, experimentiert mit Farben für die Patina. Was richtig und was falsch ist, entscheidet dabei der Blick durch die Großformatkamera. Am Ende muss sich die Illusion, die durch das jeweilige Modell erzeugt wird, nämlich allein auf dem Foto bewähren – und nur aus einem einzigen Blickwinkel. Wenn Kunert in seinen Ausstellungen die Fotografien zusammen mit den Modellen präsentiert, so kann er damit nicht zuletzt auch zeigen, "wie sehr sich das Auge täuschen lässt".

Beim raffinierten Umgang mit Kamera und Licht schöpft Kunert auch aus seiner Erfahrung als Produktfotograf. Während seiner Fotografenlehre war er immer wieder angehalten gewesen, ganz profane Dinge wie etwa einen Türbeschlag im besten Licht erscheinen zu lassen. Dass er nicht in der Werbebranche bleiben wollte, war ihm früh klar, sagt der Künstler, "aber hinsichtlich Illusionserzeugung hat mir die Werbung natürlich eine gute Basis geschaffen".

"Live-Übertragung"
Frank Kunert

Dass er, der das Haptische und die Entschleunigung bevorzugt, die Medienwelt kritisch betrachtet, wird auch in manchen Bildern deutlich. Eins davon mag man aus den sozialen Netzwerken kennen, ohne zu wissen, das es von Kunert stammt: Es zeigt ein Klo, dessen Abflussrohr mitten durchs Wohnzimmer verläuft und direkt ins Fernsehgerät mündet. Nur Sch... im TV: Als Kunerts subtilste Pointe wird man dieses Bild mit dem Titel Live-Übertragung ehrlicherweise nicht bezeichnen können. Dafür machte es vor einiger Zeit auf Facebook eine größere Runde.

Der kluge Nachwuchs

Kritik übt Kunert übrigens auch an der oft elitären modernen Kunst. Im Bild Auf hohem Niveau zeigt er ein nicht sonderlich barrierefreies "Museum of Contemporary Art", dessen Eingangsstufen erst über Kopfhöhe beginnen. Derart unzugänglich, eben "abgehoben", sollen seine eigenen Bilder freilich nicht sein.

"Auf hohem Niveau"
Frank Kunert

Und eine besondere Beziehung dürften so jedenfalls nicht zuletzt Kinder zu seiner Fotografie haben: Gelegentlich habe er beobachtet, dass die Kleinen ihren Eltern seine Bilder "erklären", sagt Kunert. Bei einer Ausstellung habe etwa einmal ein Erwachsener das Bild vom Hochhaus mit den falschen Balkonen nur ganz kurz betrachtet und mutmaßlich nicht realisiert, was er da eigentlich sah. Erst der Nachwuchs regte dann zum zweiten Blick an. Wie das zu erklären sei? "Erwachsene denken sich: ‚Aha, ein Hochhaus, kenn ich schon, brauch ich nicht weiter hinschauen‘. Aber Kinder sind unvoreingenommener und merken, dass sich hier eigentlich was ganz Absurdes abspielt." (Roman Gerold, 3. 6. 2017)