Kulturwissenschafter Thomas Macho fordert Risikoabschätzung.

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Angesichts seiner innigen Beziehung zu Social Media hat sich Donald Trump als Motiv für eine Handy-Schutzhülle förmlich aufgedrängt.

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Wer auf Facebook fragt, was der Unterschied zwischen Wahrheit und Wirklichkeit ist, darf sich über lustige Antworten nicht wundern. Da kommen auch herzig-amüsierte Stellungnahmen von Sprachkünstlern zutage: "Man kann wirklich wahr sagen, aber nicht warklich wihr." Und es kommen ernsthafte Antworten: "Wirklichkeit passiert auch ohne Menschen, die Wahrheit hat eine zutiefst menschliche Komponente."

Ein Satz wie dieser reicht wahrscheinlich schon sehr nahe an eine gültige Beantwortung der Frage. Vereinfacht gesprochen: Wirklich ist die Sonne auch, wenn wir sie nachts nicht sehen, die Wahrheit ist, dass es vielen Menschen im Sommer auch in Europa schon viel zu heiß ist – obwohl sie am eigenen Leib noch nicht erfahren haben, was wirkliche Hitze bedeuten kann, was Trockenheit, Durst und Hunger. Das ist dann ihre ganz persönliche Wahrheit.

Der Kulturwissenschafter Thomas Macho meint dazu: "Die moderne Gesellschaft lebt davon, dass jeder glauben und für wahr halten darf, was er will." Ein tiefgreifendes gesellschaftliches Problem entsteht wohl nur dann, wenn Menschen mit Macht ihre Wahrheit als die einzig gültige sehen und Verdrehungen von Tatsachen ohne Scham als "alternative facts" bezeichnen – wie etwa US-Präsident Donald Trump oder andere populistische Politiker.

Politiker mit Chuzpe

Thomas Macho ist Direktor des Internationalen Forschungszentrums Kulturwissenschaften (IFK) an der Kunstuni Linz. Er sagt zu Trump: "Ich bin immer wieder überrascht, mit welcher Chuzpe Politiker wie er das als Wahrheit definieren, was in die eigene Weltordnung hineinpasst." Immer noch glauben ihm viele Menschen, obwohl er schon mehrfach der Lüge überführt wurde. "Es gibt wohl eine Sehnsucht nach einem starken Mann, der verspricht, Probleme zu lösen, der von sich und seiner Sicht der Dinge überzeugt ist, und den Menschen damit auch die Unsicherheit nimmt." Der britische Schriftsteller Stephen Fry sagte kürzlich recht treffend dazu: "Der größte Feind des Wissens ist nicht das Unwissen, sondern die Illusion von Wissen."

Im Zusammenhang mit Trumps Ankündigung, die USA werden aus dem internationalen Klimaabkommen von Paris aussteigen, erinnert Thomas Macho an den Soziologen Max Weber, der die Verantwortungsethik der Politik in der Vordergrund gerückt hat. Sie stehe ganz im Gegensatz zur Gesinnungsethik, von der sich Populisten die ewige Wahrheit ableiten wollen, die aber ein gefährliches Spiel mit dem Wohl der Gesellschaft sei. Macho wünscht sich eine Risikoabschätzung beim Streit darüber, was nun wahr ist und der Wirklichkeit sehr nahe kommt. "Wo gibt es mehr Risiko: wenn ich den Klimawandel nicht sehe und daher in eine Umweltkatastrophe gehe? Oder wenn ich den Klimawandel als Problem anerkenne, vielleicht auch nicht hundertprozentig wissenschaftlich exakt liege, Industrie und Verkehr aber neu regle, um weniger Schadstoffe auszustoßen?"

Eine Risikoabschätzung könne es aber nur durch einen Diskurs geben, der offen geführt werden müsste. Die sozialen Medien seien dafür freilich keine geeignete Plattform. "Hier befinde ich mich nur wieder unter meinesgleichen – Menschen, die auf meiner 'Freundesliste' stehen, werden auch ungefähr mein Weltbild haben." Der Hype um Facebook würde das Problem nur größer machen.

Macho sieht eine gewisse Ironie darin, dass sich Trump auf der Social-Media-Plattform Twitter @realDonaldTrump nennt. "Dieses 'real' ist natürlich auf ihn bezogen und bedeutet eigentlich: Ich bin die Wirklichkeit", erklärt Macho seine Lesart. Da erkenne er deutliche Parallelen zu den Religionen. Eine Pervertierung, da man in der Politik selbstverständlich der Ansicht sei, sich irren zu können. "Was im Normalfall keine schwerwiegenden Folgen hat." Donald Trump sehe Irrtümer nur bei politischen Gegnern und den ihn kritisch gesinnten Medien, die er als Feinde anprangert – und damit jeden Diskurs über seine Aktivitäten als falsch und verwerflich bezeichnet.

Macho erinnert bei der Frage, was Wahrheit und was Wirklichkeit ist, auch an den österreichischen Philosophen Karl Popper und seine Wahrheitstheorie. "Ihr entscheidender Punkt war die Falsifizierbarkeit. Das ist das Kriterium, um einen Sachverhalt als wahr überhaupt anerkennen zu können."

Auch Wissenschafter könnten sich irren, erleben Paradigmenwechsel. Sie sind aber im Gegensatz zu Politikern meist vorsichtig mit Behauptungen. Und sammeln viele Erkenntnisse, um Aussagen über die Wirklichkeit zu treffen. Die dann – im Falle von Trump und seine Anhängern – ohne stichhaltigen Gegenbeweis gern angezweifelt werden.

Wirklichkeit gegen Wahrheit? Wie nannte es ein Facebook-User auf die Frage nach dem großen, kleinen Unterschied? "Die Wahrheit hat es in diesen Tagen offenbar leichter, selbst wenn sie die Wirklichkeit noch so stark verdreht." (Peter Illetschko, 7.6.2017)