Am Anfang steht ein Gedankenexperiment: Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich in einem kahlen Raum. Plötzlich öffnet sich die Tür, eine Person tritt ein und stellt sich mit Ihrem Namen vor und gibt vor, Sie zu sein. Doch damit nicht genug. Wenig später öffnet sich die Tür erneut, eine weitere Person kommt ins Zimmer und gibt ebenfalls an, Sie zu sein. Drei Menschen in einem Raum, die den selben Namen tragen, dieselbe Biografie aufweisen, dieselbe Identität haben.

Wir würden Sie reagieren? Und wie würden Sie – ohne weitere Hilfsmittel, wie zum Beispiel Ihrer Geburtsurkunde – beweisen, dass es sich bei den beiden Anderen um Scharlatane handelt, die frechen Identitätsdiebstahl begehen und nur Sie Ihren Namen zu Recht tragen? 

Dr. Milton Rokeach hat eine Idee

Genau diese Fragen stellte sich auch Milton Rokeach, Professor für Sozialpsychologie an der Michigan State University. Er wollte herausfinden, wie psychisch kranke Menschen, die sich für ein und dieselbe historische Persönlichkeit hielten, in dieser Situation reagieren würden. Und so suchte er Ende der 1950er-Jahre in ganz Michigan nach Patienten, die ihm für ein Experiment geeignet schienen. An Einsteins, Lincolns und Napoleons herrschte Mangel, doch im Ypsilanti State Hospital wurde er schließlich fündig. Dort gab es zwei Patienten, die sich für Jesus Christus hielten. Um die verwirrende Konstellation auf die Spitze zu treiben, machte Rokeach in einer anderen Klinik einen dritten Jesus ausfindig und ließ ihn kurzerhand nach Ypsilanti verlegen. Das Experiment konnte beginnen.

Ypsilanti State Hospital. Die Anstalt schloss ihre Türen 1991 und wurde 2006 abgerissen.
Foto: Jeffrey Stroup

Die drei Christusse

Am 1. Juli 1959 trafen die drei Patienten zum ersten Mal aufeinander. Sie hießen Leon Gabor, Clyde Benson und Joseph Cassel – und waren felsenfest davon überzeugt Jesus Christus zu sein.

Milton Rokeach versammelte die Drei in einem schlichten Besucherzimmer, und bat sie, sich einander vorzustellen. Ein gewagtes Experiment, denn auch Rokeach konnte nicht vorhersehen, wie die drei Christusse reagieren würden. Würden sie argumentieren, sich zurückziehen, Einsicht in ihre Krankheit erlangen oder gar aufeinander losgehen? Rokeach hoffte, dass die Patienten ihre wahnhafte Identität aufgeben würden, wenn sie erst mit den beiden Anderen, die angaben dieselbe Person zu sein, konfrontiert würden. Doch sicher konnte er nicht sein.

Das Verwirrspiel kam in Gang, denn nun ergriffen die drei Kranken das Wort, und jeder von ihnen gab sich als Jesus Christus zu erkennen. Die Drei schienen über diese Tatsache zunächst nicht allzu erstaunt zu sein, im Verlauf des Experiments bezichtigten sie einander sogar des Betrugs. Rokeach ließ es aber nicht bei regelmäßigen Gesprächsrunden bewenden, in denen die Männer immer wieder aufeinander trafen. Vielmehr legte er die drei Messiasse in dasselbe Zimmer. Zwei Jahre lang verbrachten die drei Kranken nun auf engstem Raum, aßen gemeinsam, arbeiteten in der Wäscherei, ohne die Möglichkeit, sich aus dem Weg gehen zu können, immer mit dem Spiegel der eigenen erdachten und verinnerlichten Persönlichkeit konfrontiert.

Anders als dieser Schauspieler in London, glaubten die Insassen wirklich, Jesus Christus zu sein.
Foto: REUTERS/Stefan Wermuth

Erstaunlicherweise fanden die drei Gesalbten schon nach kurzer Zeit überaus stimmige Erklärungen für die rätselhaften Vorgänge: Cassell war der Ansicht, dass die anderen Beiden gar nicht am Leben, gar keine echten Menschen seien, sondern durch Maschinen ersetzt worden waren. Man müsste bloß die Maschinen aus den Körpern entfernen, dann würden sie verstummen.

Benson wiederum ging davon aus, dass die anderen Beiden sich als Christus ausgaben, um sich selbst in den Vordergrund zu spielen.
Die verblüffendste Lösung hatte aber eindeutig Gabor parat: Die anderen könnten unmöglich Jesus sein, da sie ja Insassen einer psychiatrischen Anstalt seien. Wie kann man dieser schlüssigen Argumentation widersprechen?

So konfliktfrei die Gesprächssitzungen begonnen hatten, so problematisch wurden sie nach einiger Zeit, da sich die drei Christusse bei manchen Themen nicht einig waren. Gabor war sich sicher, dass der erste Mensch, Adam, eine schwarze Hautfarbe gehabt haben musste. Benson widersprach heftig und begann auf Gabor einzuschlagen. Nach der Attacke war Gabor offenbar nicht mehr ganz so sicher, dass Adam von dunkler Hautfarbe gewesen sei. Doch weiterhin bestanden alle Drei darauf, Jesus Christus zu sein.

Das Experiment geht zu Ende

Monate vergingen, und der anfangs euphorisch gestimmte Dr. Rokeach musste sich eingestehen, dass sein Experiment letztendlich wohl gescheitert war. In einem letzten verzweifelten Anlauf versuchte er, Cassell, Benson und Gabor von ihrem Irrglauben zu befreien, indem er die Außenwelt für einen kurzen Augenblick ins Innere der Anstalt vordringen ließ: Er las ihnen einen Artikel aus der Lokalpresse vor, der sich mit ihrem Fall befasste. Doch damit löste er das Problem nicht. Die Drei hörten zwar den Bericht, doch stellten keinerlei Bezug zu sich selbst her, sondern meinten, dass die drei Herren, über die hier erzählt wurde, wohl dringend in eine Anstalt eingewiesen werden müssten, da sie offensichtlich verrückt seien.

Zwei Jahre lang gelang es Rokeach nicht, seine Patienten von ihren Wahnvorstellungen abzubringen. Auch nach einer Unzahl von Sitzungen und Konfrontationen gab jeder der Drei an, der einzig wahre Sohn Gottes zu sein. Am 15. August 1961 trafen sich Cassell, Benson und Gabor ein letztes Mal, danach beendete Rokeach das Experiment. Die drei Christusse verbrachten den Rest ihres Lebens in psychiatrischen Anstalten und galten als unheilbar.

Das Ypsilanti State Hospital beherbergte in Glanzzeiten bis zu 4.000 Patienten.
Foto: Jeffrey Stroup

Milton Rokeachs Gedanken zum gescheiterten Experiment

Jahre später hielt Milton Rokeach folgendes fest: "…while I had failed to cure the three Christs of their delusions, they had succeeded in curing me of mine–of my God-like delusion that I could change them by arranging and rearranging their daily lives […] I came to realize  that I really had no right, even in the name of science, to play God and interfere around-the-clock with their daily lives."

Er kam also zu der Einsicht, dass er selbst wie Gott gehandelt, die drei Menschen wie Spielfiguren nach seinem eigenen Willen arrangiert und ihr tägliches Leben damit auf den Kopf gestellt hatte – und dazu hatte er kein Recht, auch nicht im Namen der Wissenschaft. (Kurt Tutschek, 8.6.2017)

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