Wann immer Kamran, ein in Wien lebender Künstler aus Teheran – alleinstehend, gut aussehend, Mitte Dreißig – von einem Besuch in seiner alten Heimat nach Wien zurückkehrt, schwärmt und klagt er. In Teheran, schwärmt er, "findet das Leben statt". "Erotik liegt in der Luft." Auf Partys, in Cafés und auch auf der Straße, könne man "die Erotik förmlich riechen". Wien, klagt er, sei da ganz anders.

Wann immer ich österreichischen Freunden und Bekannten von Kamrans Klagen und Schwärmen berichte, sind sie überrascht. Um ihre Überraschung im gleichen Atemzug wieder zurückzunehmen. "Kein Wunder", heißt es dann, "von wegen Reiz des Verbotenen".  Womit das Thema in der Regel auch abgehakt ist.

Vom Heiligen Paulus bis Tom Sawyer

Der Zusammenhang zwischen dem Verbot und dem Reiz, allgemeiner: zwischen dem Gesetz und dem Begehren, scheint uns selbstverständlich. Philosophen, Heilige und Schriftsteller haben immer wieder auf ihn verwiesen, vom Apostel Paulus – "Ich hätte ja von der Begierde nichts gewusst, wenn nicht das Gesetz gesagt hätte: Du sollst nicht begehren. [...] ohne das Gesetz war die Sünde tot."¹ – bis Mark Twain, dessen Tom Sawyer seinen Freunden suggeriert, dass nicht jeder den Gartenzaun streichen dürfe, so dass ihnen die Strafe, die ihm Tante Polly auferlegt hat, als Privileg und exklusives Vergnügen erscheint. Weitere Fragen über diesen Zusammenhang stellen wir in der Regel gar nicht. Zum Beispiel jene, warum uns das Verbotene denn so reizt beziehungsweise ob es das überhaupt (immer) tut – oder: ob das Verbot, dort wo wir es vermuten – in unserem Fall im Iran – überhaupt existiert.

Von Lustehen und "weißen Ehen"

In ihrem Dokumentarfilm "Bazar der Geschlechter" beschäftigt sich die Regisseurin Sudabeh Mortezai mit der Institution der Zeit- oder Lustehe, eine im schiitischen Islam erlaubte, rasche und unbürokratische Form der Eheschließung – für die Dauer von einer halben Stunde bis zu 99 Jahren. Die Zeitehe wird im Iran vom herrschenden religiösen Establishment, mit dem erklärten Ziel Prostitution und "westliche Dekadenz" zu bekämpfen, tatkräftig gefördert.

Während das Gesetz bei Paulus die Lust verbietet, und sie auf diese Weise indirekt produziert, zielt das religiöse Gesetz in der Islamischen Republik Iran auf die direkte Produktion sexueller Lust. Indem es diese gebietet.

Allerdings musste die Regisseurin lange suchen, bis sie Personen fand, die bereit waren, über ihre Erfahrungen als "Zeit-Eheleute" zu berichten. Wie ein Geistlicher in einer Szene des Films sagt, wird die Institution der Zeitehe von weiten Teilen der Gesellschaft wörtlich als anstößig empfunden und abgelehnt. In ihrem Bemühen, das Sexuelle zu legitimieren – sprich: ihm das Anstößige zu nehmen – kommt hier die Religion selbst in den Geruch des Anstößigen.

Tatsächlich zieht es ein Großteil der jungen unverheirateten Iranerinnen und Iraner vor, auf die unbürokratische und legale Befriedigung ihrer Lust via Zeitehe zu verzichten und ihre Sexualität abseits des (religiösen) Gesetzes zu leben. Etwa im Rahmen von nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften, im Iran "weiße Ehen" genannt, deren zunehmende Verbreitung auch in den offiziellen Medien des Landes diskutiert wird.

Filmstil aus "Der Bazar der Geschlechter".
Foto: Poool

"Warum verbieten wir uns selbst, was uns Gott erlaubt hat?"

Das sexuelle Verhalten und Empfinden weiter Teile der iranischen Gesellschaft scheint demnach ähnlich strukturiert zu sein, wie jenes in westlichen Gesellschaften. Hier wie dort haben wir es offenbar mit individualisierten und pluralisierten sexuellen Beziehungen zu tun, die, wie der Soziologe Sven Lewandowski feststellt, keinen traditionellen Vorgaben folgen, ihre Legitimation aus sich selbst heraus beziehen – und um ihrer selbst willen existieren. Sie stehen, so Lewandowski, in Anlehnung an Anthony Giddens², unter dem Paradigma der "demokratisch verfassten Intimität": Sexuelle Praktiken und Interaktionen müssen unter gleichberechtigten Partnern immer wieder aufs Neue ausverhandelt werden, mit dem Ziel der Produktion beziehungsweise der Maximierung sexueller Lust. Wie diese Lust erzeugt wird ist laut Lewandowski sekundär. Im Iran wie im Westen ist die zeitgenössische Sexualmoral demnach hedonistisch.

Aber halt. Wenn die im Iran vorherrschende Sexualmoral hedonistisch sein soll, sich also in allererster Linie an der Lust orientiert – warum machen sich junge Iranerinnern und Iraner dann das Leben so schwer? Warum nützen sie nicht einfach die bequeme und legale Möglichkeit, ihre Lust im Rahmen der vom Staat und von der Religion nicht bloß erlaubten, sondern geradezu verordneten Zeitehe auszuleben? Warum entscheiden sie sich stattdessen für diverse Formen vor- und außerehelicher Sexualität – und nehmen dabei auch noch das Risiko drakonischer, archaischer Strafen in Kauf?

"Warum" so ein besorgter Online-Kommentar im Diskussionsforum der Website der – regierungsnahen – iranischen Nachrichtenagentur "Fars News Agency", "warum verbieten wir uns selbst, was uns Gott erlaubt hat?"

Ja, warum eigentlich? (Sama Maani, 7.6.2017)

Fortsetzung folgt.

¹ Die Bibel. Einheitsübersetzung.
² Vergleiche: Anthony Giddens, Wandel der Intimität. Sexualität, Liebe und Erotik in modernen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1992.

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