Bild nicht mehr verfügbar.

Die Piazza San Carlo im Zentrum von Turin kurz nach der Massenpanik am Samstagabend. Durch mitgebrachte Glasflaschen erlitten viele der mehr als 1500 Verletzten Schnittverletzungen.

Foto: AP / Alessandro Di Marco

Die Piazza San Carlo wird von den Turinern gerne als ihr "salotto" bezeichnet, als Salon ihrer Stadt. Tatsächlich gilt der große, von vornehmen Barockpalazzi, zwei Kirchen und mehreren eleganten Cafés gesäumte Platz im Herzen der Stadt als einer der schönsten im ganzen Land. In der Nacht von Samstag auf Sonntag glich die 168 Meter lange und 76 Meter breite Piazza jedoch einem Schlachtfeld: Überall lagen Schuhe, Rucksäcke, zerschlagene Flaschen, leere Plastiktüten und anderer Unrat herum.

Der wüste Anblick war das Resultat einer Massenpanik beim Public Viewing während des Champions-League-Endspiels Juventus Turin gegen Real Madrid. Etwa 30.000 Fußballfans hatten sich auf der Piazza versammelt. Kurz nach dem Tor zum 3:1 für die "Königlichen" aus Spanien verbreitete sich das Gerücht, es befänden sich bewaffnete Terroristen mit Bomben in der Menge. In der Folge versuchten viele, aus der Menschenmasse zu flüchten. Im Getümmel wurden Absperrungen umgeworfen, Menschen stürzten zu Boden. Insgesamt wurden mehr als 1500 Personen verletzt, drei davon schwer.

Ursache weiter unklar

Was oder wer genau die Panik verursacht hatte, ist immer noch Gegenstand von Untersuchungen. Möglicherweise war es ein Feuerwerkskörper, vielleicht aber auch ein betrunkener junger Fan mit einem Rucksack.

Am Montag wurden schwere Vorwürfe gegen die Stadtbehörden erhoben: Es habe kein ernsthaftes Sicherheitskonzept gegeben, die Fluchtwege seien zu wenig zahlreich und dann noch kaum abgesichert gewesen, und außerdem hätten die Stadtpolizisten tatenlos zugeschaut, als illegale Straßenhändler Unmengen von eigentlich verbotenen Bierflaschen verkauft hätten.

In der Tat waren die unzähligen Glasscherben der Hauptgrund für die hohe Zahl der Verletzten gewesen. "Hunderte von Fans haben sich an Glas geschnitten, und das hätte leicht vermieden werden können", betonte am Montag der Gesundheitsminister der Region Piemont, Antonio Saitta.

Behörden vergessen Parkhaus

Für Kopfschütteln sorgte zudem, dass sich während des Public Viewing mehr als hundert polizeibekannte und zum Teil wegen Gewalttaten mit Stadionverbot belegte Juve-Hooligans auf der Piazza befanden. Sie waren offenbar – wie auch die illegalen Bierverkäufer – durch das unter der Piazza befindliche Parkhaus auf den Platz gelangt. Die Einfahrten ins Parkhaus und die Ausgänge auf den Platz waren im Sicherheitskonzept vergessen und daher nicht kontrolliert worden.

Letztlich hatten die Stadtbehörden, trotz der vielen Verletzten, mehr Glück als Verstand: Wenn Hooligans ohne Probleme zum Public Viewing gehen konnten, dann hätte dies problemlos auch ein Attentäter tun können.

Im Zentrum der Kritik steht die Turiner Bürgermeisterin Chiara Appendino. Sie ist, wie ihre Römer Amtskollegin Virginia Raggi, Mitglied von Beppe Grillos Protestbewegung. Appendino hat nach eigenen Angaben das Sicherheitskonzept ihres Vorgängers übernommen, das schon 2015 beim Champions-League-Finale Juventus Turin gegen den FC Barcelona angewendet worden sei "und gut funktioniert hat". Doch der internationale Kontext hat sich in den vergangenen zwei Jahren verändert, wie Turins Polizeichef Renato Saccone betonte: Heute lebe man in einem "Klima der Sorge". Eine Paniksituation auf einem öffentlichen Platz in den Griff zu bekommen sei deshalb "besonders komplex".

Organisatoren in der Pflicht

Um eine Massenpanik bei Großereignissen künftig zu verhindern, will Italiens Innenminister Marco Minniti bei den Sicherheitsmaßnahmen dafür sorgen, dass die Organisatoren, die Polizei und die kommunalen Behörden "noch einen Gang höher schalten" – vor allem bei den Eingangskontrollen, der großräumigen Überwachung und bezüglich der Fluchtwege. Immerhin stehen in Italien bis Ende September laut offiziellen Zahlen des Innenministeriums 1700 Veranstaltungen unter freiem Himmel auf dem Programm.

Mit den Maßnahmen soll nicht nur die objektive Sicherheit bei diesen Anlässen, sondern auch das subjektive Sicherheitsgefühl der Besucherinnen und Besucher verbessert werden. "Wir müssen solche Psychosen wie in Turin vermeiden", betonte Minniti. Immerhin habe der falsche Alarm auf der Piazza San Carlo sehr viel mehr Verletzte gefordert als etwa der echte Terroranschlag am gleichen Tag in London oder zwei Wochen zuvor in Manchester. (Dominik Straub aus Rom, 6.6.2017)