Es ist ein ungewöhnlicher Anblick, der sich abends in Al-Hoceïma wiederholt. Kurz nach dem Fastenbrechen in der wichtigsten Stadt im marokkanischen Rif-Gebirge steht Nawal Ben Aissa auf einem Platz im Stadtteil Sidi Abed, ein Mikrofon in der Hand. Das offene schulterlange blonde Haar bewegt sich in der nächtlichen Brise. Die 36-Jährige trägt ein Shirt mit dem Porträt des am Montag vor einer Woche verhafteten Anführers der Protestbewegung Hirak in Al-Hoceïma, Nasser Zafzafi. Umgeben von Frauen, die ihr Haar mit einem traditionellen Kopftuch bedeckt halten, verlangt die Mutter von vier Kindern die Freilassung von Zafzafi und weiteren 20 Verhafteten. Sie spricht laut und selbstbewusst.

Ben Aissa ist mit einem Taxifahrer verheiratet, der selbst nicht an der Bewegung teilnimmt, aber, wie sie sagt, "stolz auf mich ist". Als ihre Heimat beschreibt sie auf Facebook den "von der Korruption erdrückten Rif", wo sie auch den Großteil ihres Lebens verbracht hat. Ein Studium, das sie gern gemacht hätte, scheiterte an den fehlenden Finanzen ihrer Familie. Stattdessen wuchs das Interesse an der Politik: "Ich habe an allen friedlichen Protesten teilgenommen" seit jenem Oktobertag 2016, als ein wandernder Fischhändler nach einem Streit mit den Behörden ums Leben gekommen ist, sagt sie über sich. Ben Aissa war dennoch bis vor einer Woche, als sie erstmals bei der Demo sprach, weitgehend unbekannt. Einzig am 8. März, dem Weltfrauentag, stand sie in der ersten Reihe.

Fahnen der Rif-Republik wehen

Wie Zafzafi ruft auch Ben Aissa zur Gewaltlosigkeit auf. Wer Steine werfe, gehöre nicht zur Bewegung, Polizisten seien "Brüder", die sich nur dadurch unterschieden, dass sie Uniform tragen. Den Vorwurf von Presse und Politik, die Bewegung wolle das Rif von Marokko abspalten, weist sie zurück. Bei den Protesten wehen dennoch die Fahnen der kurzlebigen Rif-Republik (1921-1926), als eine Rebellenarmee unter dem von Zafzafi und Ben Aissa verehrten Führer Abdelkrim die spanischen Kolonialherren zurückdrängte. Doch von kulturellen Forderungen der Berber spricht Ben Aissa nicht. Ihr geht es um Arbeit und Würde und um fehlende Spitäler und Universitäten in der Region.

Angst, dass sie dasselbe Schicksal ereilen könnte wie Zafzafi, hat sie nicht. "Ich werde mich nicht verstecken, auch wenn das bedeutet, dass sie mich verhaften!", sagt sie. Sie fürchte nicht die Haft, sondern den Schmerz, den es ihren Eltern bereiten würde, sie hinter Gittern zu sehen. (Reiner Wandler, 6.6.2017)