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Der strengen Bewachung gewinnen manche Briten (Bild: Manchester) positive Seiten ab.

Foto: AP Owen Humpreys

London – Die Rücktrittsaufforderung kommt zunächst von einem Parteifreund, ehe der Oppositionsführer sie aufnimmt. Großbritanniens Premierministerin Theresa May sei für die Sicherheitspannen rund um die jüngsten Terroranschläge verantwortlich, teilt Steve Hilton auf Twitter mit. "Anstatt sich um die Wiederwahl zu bewerben, sollte sie zurücktreten." Zwei Jahre lang hat Hilton von 2010 an die Strategieabteilung des konservativen Premierministers David Cameron geleitet, hatte dabei immer wieder auch Streit mit der damaligen Innenministerin May. Nun also die Rache? Hilton ärgert sich darüber, dass Mays PR-Berater an diesem Montag hinter vorgehaltener Hand von "Wut" über das Versagen des Inlandsgeheimdienstes MI5 reden. "Sie war jahrelang dafür verantwortlich!"

Bewaffnet mit diesen Äußerungen und den Klagen hochrangiger früherer Polizeiführer geht wenig später Jeremy Corbyn in die Offensive. Ja, er stelle sich hinter die Forderungen, gibt der Labour-Vorsitzende zu Protokoll. "Wir haben ein Problem. Wir hätten das Polizeibudget nicht kürzen sollen, und May war dafür verantwortlich." Also Rücktritt der Frau, die sechs Jahre lang Innenministerin war, ehe sie im vergangenen Juli ins höchste Regierungsamt aufrückte? "Na ja", sagt der 68-Jährige, "am Donnerstag ist Wahl, das ist die beste Gelegenheit, die Sache zu bewerkstelligen."

Fiebrige Atmosphäre

Etwa zur gleichen Zeit tritt die Regierungschefin in Edinburgh vor die Fernsehkameras. Es ist einer jener Wahlkampfauftritte, den ihre konservative Partei für May organisiert hat: in den Fabrikhallen sympathisierender Unternehmer, vor einer kleinen Zahl ausgesuchter Parteigänger. Berührung mit dem gemeinen Wahlvolk kam im Skript der vergangenen sieben Wochen kaum vor. Routiniert spricht May von ihrer Vision für das Land, über ihren Brexit-Plan. Die Rücktrittsforderungen würdigt sie keiner echten Antwort. Großbritannien am Pfingstmontag, drei Tage vor der Unterhauswahl. Als Theresa May den um drei Jahre vorgezogenen Urnengang einforderte, glaubten alle Politikinteressierten an einen Erdrutschsieg. Noch immer deutet alles auf einen Sieg von Mays Torys hin. Aber hinter der Insel liegt eine siebenwöchige Wahlkampagne, in der viele einstige Selbstverständlichkeiten infrage gestellt wurden. Dazu gehörte bisher, dass Sicherheitsprobleme automatisch den Konservativen zugutekommen würden. Stimmt das noch in der fiebrigen Atmosphäre nach dem dritten Anschlag binnen neun Wochen, dem zweiten in London?

In Großbritannien werden weitere Anschläge von Regierungsseite schon seit 2014 als "höchst wahrscheinlich" eingestuft – auf dem zweihöchsten Rang der Alarmskala. Wie ernst Polizei und Bevölkerung das nehmen, erleben Reisende immer wieder: Wer an den Bahnhöfen der Stadt einen Koffer nur für fünf Sekunden aus den Augen lässt, muss sich schon scharfe Nachfragen von Polizei oder Passanten gefallen lassen. Ähnliche Szenen sind in der U-Bahn gang und gäbe: Bei vermeintlich herrenlosem Gepäck verlieren die Londoner ihre sonst sprichwörtliche Gelassenheit, sind selbst fröhlich Angetrunkene binnen Sekunden stocknüchtern.

Sekundenschnelles Umschalten von Feierlaune auf Alarmstimmung – so ähnlich muss es am Samstagabend auch in den Pubs rund um den Borough Market am Südufer der Themse gewesen sein. Mit einem Kleinlastwagen ist ein Islamistentrio kurz nach 22 Uhr auf den breiten Gehsteig der London Bridge gefahren und hat Passanten umgefahren.

Attacke mit langen Messern

Als das Gefährt zum Stehen kommt, attackieren die drei Täter mit großen Messern – Zeugen sprechen von bis zu 30 Zentimeter langen Klingen – wahllos Pubbesucher und Spaziergänger. "Das ist für Allah", rufen sie Augenzeugen zufolge. Das Massaker beenden acht Beamten eines Spezialkommandos: Mit insgesamt 50 Kugeln aus ihren Maschinenpistolen erschießen sie die drei Täter vor dem Wheatsheaf Pub. Sie treffen auch einen amerikanischen Touristen, dessen Leben aber nicht gefährdet ist.

Mindestens sieben Menschen haben die Terroristen getötet, Dutzende verletzt. Am Montag schweben noch immer mindestens acht Patienten in Lebensgefahr. Die Kripo kennt die Namen zweier Täter, sie wurden am Montagabend als Khuram Shazad Butt und Rachid Redouane identifiziert. Der dritte Täter ist noch nicht identifiziert.

Der 27-jährige Butt, der sogar in einer TV-Dokumentation mit dem Titel "Die Jihadisten von nebenan" zu sehen war, war dem Inlandsgeheimdienst MI5 bereits vor dem Attentat bekannt. Er wurde aus einer Londonder Moschee geworfen, nachdem er öffentlich radikale Ansichten äußerte. Ein Bekannter meldete ihn vor zwei Jahren bei der Hotline des Geheimdienstes.

ORF

Dasselbe war auch bei dem jungen Islamisten Salman Abedi der Fall. Der Brite libyscher Herkunft zündete vor zwei Wochen nach dem Konzert von US-Popstar Ariana Grande im Foyer der Arena-Konzerthalle von Manchester eine Bombe und riss 22 Menschen, meist junge Mädchen und ihre Eltern, in den Tod. Sonntag trat Ariana Grande erneut in Manchester auf, gemeinsam mit anderen Popgrößen wie Take That und Pharrell Williams. Der Gig "One Love" vor 50.000 Zuschauern soll zur Heilung und Versöhnung der Stadt beitragen, der Erlös kommt den Opfern zugute.

Passieren müsse etwas im Umgang mit Terrorismus, sagt die Premierministerin am gleichen Tag. Es gebe "viel zu viel Toleranz" gegenüber Extremisten auf der Insel, sagt May und kündigt "schwierige und oft peinliche Gespräche" an. (Sebastian Borger aus London, 5.6.2017)