"Digitalisierung ist immer auch Normierung auf einer niedrigen Ebene. Bildung sollte doch das Gegenteil davon sein", sagt Philosoph Konrad Paul Liessmann.

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Die noch amtierende rot-schwarze Regierung wollte alle Schülerinnen und Schüler in der fünften und in der neunten Schulstufe mit Tablets bzw. Laptops ausstatten.

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STANDARD: "Tablets für alle!" lautet eine der letzten Verheißungen der im Scheidungsprozess befindlichen SPÖ-ÖVP-Koalition. Ab 2017 sollten laut Koalitionspakt "alle Schülerinnen und Schüler in der fünften Schulstufe und in der neunten Schulstufe sowie auch die LehrerInnen mit adäquaten digitalen Endgeräten (Tablets, Laptops etc.) ausgestattet" werden. Was sagt der Philosoph, der eine "Theorie der Unbildung" und eine "Praxis der Unbildung" geschrieben hat, dazu?

Liessmann: Diese digitale Aufrüstung von Schulen, Schülern und Lehrern wird den Bildungsprozess nicht sonderlich positiv beeinflussen. Der materielle Aufwand steht zu den erwartbaren bescheidenen Ergebnissen in einem krassen Missverhältnis. In Amerika, wo schon sehr früh Notebook- und Tabletklassen eingeführt wurden, geht man dazu über, die Tablets wieder aus den Schulen zu verbannen. Die Manager der Internetkonzerne aus dem Silicon Valley schicken ihre Kinder bevorzugt in Waldorfschulen, an denen digitale Geräte verboten sind, weil das Ablenkungs- und Zerstreuungspotenzial durch diese Geräte massiv verstärkt wird und wichtige Lernprozesse, in denen es um die grundlegenden Kulturtechniken, die Entwicklung von Fantasie und Kreativität, die Erkundung der realen Welt geht, dadurch sabotiert werden.

STANDARD: Aber die Digitalisierung und ihre weitreichenden Folgen gelten doch nicht ohne Grund als vierte industrielle Revolution?

Liessmann: Natürlich verändert die Digitalisierung menschliche Arbeitsprozesse, bestimmte Formen der Arbeit werden verschwinden. Aber nicht alles kann oder soll digitalisiert werden. Übrigens wurden auch nach der ersten industriellen Revolution nicht alle Schulen mit Dampfmaschinen ausgestattet. Es ist ja nicht so, dass nur, weil etwas digitalisiert werden kann, es in digitalisierter Form besser ist. Soeben ist "Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band", das legendäre Album der Beatles, in einer wunderbaren, aufwendig gestalteten analogen Vinylpressung wieder erschienen. Jeder Mensch mit Geschmack wird dieses Album kaufen und sich nicht die lächerliche digitale Datei herunterladen, die zudem – gehört über Smartphone und billige Kopfhörer – grauenvoll klingt. Digitalisierung ist immer auch Normierung auf einer niedrigen Ebene. Bildung sollte doch das Gegenteil davon sein.

STANDARD: Was ist schlecht daran, wenn Kinder mit guter Lernsoftware oder technischen Geräten, mit denen sie heute ohnedies schon früh vertraut sind, etwas lernen?

Liessmann: Seit man geglaubt hat, Unterricht technisieren zu können, gibt es den Mythos der guten Lernsoftware. Erinnert sich noch jemand an den "programmierten Unterricht" früherer Jahrzehnte, der mit denselben hochtrabenden Floskeln propagiert wurde wie heute? Gebracht hat es nichts. Noch keine dieser angeblich so guten Lernsoftwares hat sich irgendwo tatsächlich durchgesetzt. Warum wohl? Der Grundirrtum besteht darin, dass man vergisst, dass Lernen im Wesentlichen ein sozialer Prozess ist, ansonsten könnte man die Schulen auflösen und jeden zu Hause oder im Garten vor sein Tablet setzen. Im Unibereich gab es die MOOCs, die Massive Open Online Courses, von denen es hieß, mit toller Lernsoftware kann jeder in Harvard oder Oxford studieren. Nach ein paar Jahren war der Boom verpufft, weil sich gezeigt hat, dass die Lernumgebung, der persönliche Kontakt, die Animation durch einen Lehrer und das Gefühl der Zugehörigkeit zu einem Lernort viel wichtiger sind als die halbgebildeten Adepten der Technik glauben. Das zeigt ja auch die viel zitierte Hattie-Studie: Der einzige Faktor, der Unterricht wirklich positiv beeinflussen kann, ist der soziale Kontakt zwischen überzeugenden und versierten Lehrpersonen und den Lernenden, nicht die Technologie, die eingesetzt wird.

STANDARD: Trotzdem gibt und wird es in der Schule Technik geben.

Liessmann: Natürlich wird man dort Technik einsetzen, wo sie sinnvoll ist. Aber über die Grenzen der Sinnhaftigkeit wird nicht diskutiert, Technik erscheint im pädagogischen Feld immer als Heilslehre, die keinen Zweifel zulässt. Wenn man sich dann den Einsatz technischer Medien an den Schulen anschaut, dann muss man sagen, wir haben in der Regel bloß Technikfriedhöfe produziert. Die vor wenigen Jahren als letzter Schrei der Digitalisierung propagierten Whiteboards, die immens viel Geld gekostet haben, hängen jetzt unbenutzt in den Klassen herum, weil schon der nächste Hype kommt, die Tablets für alle. Damit wird man ein, zwei Jahre Unterricht simulieren, alle werden ganz happy sein, bis man merkt, dass das wenig bringt, die Geräte und die Software schnell veralten, aber das nächste Wunderding – etwa die Datenbrille für alle – schon in der Warteschleife lauert. Es geht, das ist nicht zu leugnen, dabei auch um manifeste Wirtschaftsinteressen, denn das Wesen der digitalen Welt besteht ja darin, dass alles ständig aktualisiert, neu gekauft oder abonniert werden muss – im Gegensatz zum klassischen Buch, das seinen Wert behielt und weitergegeben werden konnte. Und die fundamentalen Inhalte, die vermittelt werden müssen, ändern sich nicht jedes halbe Jahr.

STANDARD: Ist nicht die Vermittlung digitaler Kompetenz in Zeiten von Fake-News besonders wichtig?

Liessmann: Auch das ist einer der großen Irrtümer. Wer produziert denn diese sogenannten Fake-News? Das sind doch gerade die digital Kompetenten! Es sind in der Regel junge Menschen, die sich in den sozialen Netzwerken bewegen, die imstande sind, Apps und Bots zu programmieren, die sich in diesen Filterblasen eingerichtet haben und diese bespielen und die ihre Kompetenz mit Lust verwenden, um Informationsflüsse zu stören. Es ist absurd zu glauben, dass jemand, wenn ich ihm zeige, wie er technisch noch besser lügen kann, dann sagen wird: Furchtbar, ich will jetzt wirklich nicht mehr lügen. Vor Fake-News schützt nur eins: handfestes traditionelles Wissen, jenes Wissen, das eine Schule, die glaubt, kompetenzorientiert vorgehen zu müssen und deshalb "Fakten" aus dem Unterricht verbannt hat, nicht mehr vermitteln will. Darum ist das Ganze ein sich selbst reproduzierender Prozess. Digitale Kompetenz, die Fake-News erzeugt, wird bekämpft mit digitaler Kompetenz, die selbst Fake-News darstellt.

STANDARD: Allerdings erwarten Sie selbst auch, dass die digitale Welt des Wissens "zur Renaissance des Lehrers führen" wird. Warum?

Liessmann: Die digitalen Kommunikationsmedien produzieren ja in hohem Maße Unsicherheit. Wenn man nicht mehr weiß, nach welchen Algorithmen Informationen gefiltert, ob Likes von Menschen oder von Bots vergeben, ob Nachrichten digital gefälscht oder manipuliert wurden, dann steigt die Bedeutung des menschlichen Faktors. Plötzlich sind Menschen interessant, die mit solchen Fragen umgehen können, weil sie ein bisschen nachgedacht, geforscht und ein paar Bücher gelesen haben, weil sie zum Beispiel historische Kenntnisse haben. Wie oft werde ich mit der Frage konfrontiert: Ist es nicht entsetzlich, dass plötzlich an Qualitätsmedien gezweifelt wird und es diese Kritik an der sogenannten Lügenpresse gibt? Früher war das doch ganz anders. Ich kann mich nur wundern über diese Geschichtsvergessenheit. Ich wuchs auf in einer Zeit, in der es von der anderen Seite, von links, selbstverständlich war, dass alle bürgerlichen Zeitungen für Lügenpresse gehalten wurden – weil im Dienste des Imperialismus und Kapitalismus stehend. Allein dieses Wissen würde uns davor bewahren, jeder Dummheit, jedem Hype, jeder Empörung und jedem Fake auf den Leim zu gehen. Dazu brauchte es aber auch mutige und fachlich qualifizierte Menschen, wie es Lehrer sein sollten. Aber dieses Wissen wird nicht vermittelt werden, nur weil jemand ein Tablet in der Hand hat und hektisch darauf herumwischt, während der Lehrer sich vornehm auf die Rolle des moralisierenden Begleiters zurückzieht.

STANDARD: "Seit Platon existiert im abendländischen Mediendiskurs eine Skepsis gegenüber allen Technologien, die es uns erlauben, unser Gedächtnis zu entlasten. Das trifft die Schrift, den Buchdruck, das Internet", schreiben Sie. Woher rührt denn diese Technikskepsis?

Liessmann: Es geht hier weniger um eine generelle Technikskepsis als um die Frage: Was geschieht mit uns als Personen, wenn das Gedächtnis ausgelagert wird? Wenn Bildung die Formung einer Persönlichkeit ist, dann ist Wissen nur dann Bestandteil dieser Bildung, wenn es bei mir ist oder in und an mir seine Spuren hinterlassen hat. Das heißt nicht, wie oft behauptet wird, dass man sich dann alles merken müsste. Wer ein Gedicht von Rilke gelesen und sich mit ihm intensiv auseinandergesetzt hat, kann auch dann zu einem anderen werden, wenn er den genauen Wortlaut wieder vergisst. Jede Form der generellen Auslagerung an andere Instanzen aber – egal, ob analoge Archive oder digitale Clouds – kommt einer Entleerung meines Selbst gleich. Platons Sorge war, dass etwas, das ausgelagert wird, erstarrt und dann für uns fremd und tot ist. Das lebendige Wissen ist für ihn das, was jederzeit in einem Gespräch, in einer sozialen Situation aktualisiert werden kann. Natürlich sind die enormen Speicher-, Archivierungs- und Recherchemöglichkeiten im Internet großartig, und sie werden viel zu wenig genutzt. Aber ein Körnchen Wahrheit steckt in dieser platonischen Skepsis. Jeder ist heute ständig darauf angewiesen, immer irgendwo nachzuschauen, schnell etwas zu googeln und zu nehmen, was ihm die Algorithmen, denen blind vertraut wird, bieten. Wir haben aber immer weniger im Kopf, und das Wissen hinterlässt auch keine Spuren mehr in unserer Seele.

STANDARD: Woran merken Sie das?

Liessmann: An jeder Talkshow kann man beobachten, dass die Menschen, auch und gerade die Eliten, immer weniger wissen. Deshalb auch dieses haltlose Meinungsgelaber und Bekunden von Affekten und Emotionen, diese Hilflosigkeit und Aufgeregtheit gegenüber den Fake-News, die man nicht mehr überprüfen kann, weil weder Vernunft noch Urteilskraft funktionieren, und auch kaum Grundkenntnisse, etwa in Statistik, Naturwissenschaften oder politischer Geschichte vorhanden sind, um die Umtriebigkeiten im Netz adäquat einschätzen zu können. (Lisa Nimmervoll, 7.6.2017)