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Welche Bücher in den ländlich geprägten Alpen gelesen wurden, ist noch weitgehend unerforscht. Fest steht: Katholische Erbauungsliteratur erfreute sich trotz Zensur großer Beliebtheit. Dieser Stich nach einem Gemälde von Adolph Tidemand zeigt ein Bauernpaar bei der Andacht.

Illustration: Picturedesk/akg-images

Innsbruck – Er war eine frühe Version von Heinz Konsalik für Katholiken. Der Kapuzinerpater Martin von Cochem, der von 1634 bis 1712 lebte und wirkte, landete mit seiner katholischen Erbauungsliteratur einen Bestseller nach dem anderen. Bis ins 20. Jahrhundert hinein wurden seine Bücher nachgedruckt. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war sein Das große Leben Christi wohl das am häufigsten in den Bauernstuben des deutschsprachigen Alpenraumes vorhandene Buch. Diesen Schluss legen die Untersuchungen des Tiroler Historikers Michael Span von der Universität Innsbruck nahe. Für sein Forschungsprojekt "Reading the Alps" befasst er sich mit den Lesegewohnheiten in den ländlichen Gebieten des katholisch geprägten Alpenraumes zwischen 1750 und 1800.

Während der Buchbesitz im protestantischen Deutschland in dieser Epoche bereits eingehend untersucht wurde, fehlten bislang ähnliche Studien zum katholisch dominierten süddeutschen Raum. Dieser Thematik nimmt sich Span nun an. Der Fokus des vom Wissenschaftsfonds FWF und dem Tiroler Matching-Fund finanzierten Forschungsprojektes, das unter der Leitung der emeritierten Innsbrucker Historikerin Brigitte Mazohl steht, liegt im ersten Schritt auf der Quellenarbeit. Dazu bedient sich Span sogenannter Inventare. Darunter versteht man Listen zum Besitz einer Person, die erstellt wurden, wenn Menschen verstorben sind oder Pachtverträge geschlossen wurden.

Eine mühsame Kleinarbeit. Denn der Historiker muss rund 4000 solcher Inventare sichten und untersuchen. "Spannend wird es, wenn man den Buchbesitz dann analysiert", sagt Span. So zeichnet sich bereits jetzt, nachdem er mehr als 450 Inventare katalogisiert hat, ein deutlicher Trend ab: Der Buchbestand in katholischen Haushalten war offenbar deutlich geringer als in protestantischen.

Das hat mehrere Gründe, wie der Historiker erklärt: "Damals war Katholiken der Besitz volkssprachiger Bibeln noch untersagt. In protestantischen Haushalten hingegen zählten eine Luther-Bibel und ein Gesangsbuch gewissermaßen zum Pflichtbestand." Tatsächlich hat Span im Zuge seiner Arbeit bislang keinen einzigen Hinweis auf eine katholische Bibel in Privatbesitz gefunden. Dafür erfreute sich die eingangs erwähnte katholische Erbauungsliteratur großer Beliebtheit. "Martin von Cochem scheint der Bestseller gewesen zu sein. Seine Bücher waren in den Inventaren bisher am häufigsten vertreten."

Für seine Forschungen konzentriert sich Span auf die Inventare in der Region Bruneck im heute südtirolerischen Pustertal. Die Pilotstudie zum Projekt hat er in seiner Heimat, dem Stubaital, durchgeführt. "Ich habe das Pustertal gewählt, weil dort die Quellenlage am besten ist", sagt er. Zudem bietet das städtisch geprägte Bruneck in Verbindung mit der ländlichen Umgebung eine interessante Mischung. Hier trafen außerdem zwei souveräne Territorien aufeinander – das Habsburgerreich und das Fürstbistum Brixen.

Bücher als Infoquelle

Die Ergebnisse der mühsamen Quellenarbeit fasst Span mithilfe von Peter Andorfer vom Austrian Center for Digital Humanities (ACDH) der ÖAW, das als Forschungspartner beteiligt ist, in einer Metadatenbank zusammen, die künftig auch anderen Wissenschaftern zur Verfügung stehen wird. Denn die Inventare liefern zahlreiche Erkenntnisse über das Leben in dieser Epoche: "Beispielsweise zu sozioökonomischen Zusammenhängen in der Region oder zum ausgeklügelten Kreditsystem der damaligen Zeit."

Diese Daten sind insofern auch für seine Forschung von Bedeutung, als sie Rückschlüsse auf den Informationsstand der Bevölkerung zulassen. Die Menschen kamen mit komplexen Rechtsgeschäften zurecht. Einige wollten es jedoch noch genauer wissen. So fand Span etwa zwei Exemplare der Tiroler Landesordnung im Privatbesitz eines Bauern sowie eines Gerbergesellen. "Das ist erstaunlich, da es sich um den geltenden Gesetzestext handelte." Besonders interessant ist für den Forscher, dass bislang keinerlei Muster zur sozialen Verteilung des Buchbesitzes auszumachen waren.

Eine Sonderrolle nahmen offenbar Geistliche ein, die in der Regel viele Bücher besaßen. Doch besonders interessant sind für den Historiker die "Ausreißer", die er bislang in den Inventaren entdeckt hat: "Da ist zum Beispiel die alleinstehende Frau ohne nennenswertes Vermögen, die zur Miete wohnte." Gemäß ihres Verlassenschaftsinventars nannte sie jedoch eine ganze Reihe von Büchern ihr Eigen. "Die Frage ist, woher sie die Bücher hatte und warum. Denn laut den Inventaren ihrer Eltern wurden sie ihr nicht vererbt."

Müller als Buchhändler

Ein anderer Fall, der bisher herausstach, ist ein Müllergeselle, dem auffallend viele Bücher, darunter einige in mehrfacher Ausführung, zugerechnet werden. "Er hat wohl damit gehandelt", sagt Span. Die Analyse der Inventare gestaltet sich äußerst schwierig, da oft keine Buchtitel, sondern nur der schiere Besitz "eines Büchleins" genannt werden. "Das hängt nicht zuletzt vom jeweiligen Gerichtsverpflichteten ab, der das Inventar geschrieben hat", erklärt der Historiker.

Eine weitere Besonderheit, die Spans Arbeit erschwert, ist die damals geltende Zensur. Viele Bücher waren verboten. Einerseits machten die Jesuiten aktiv Jagd auf unerwünschte Literatur, vornehmlich jene protestantischen Inhaltes. Aber auch der Staat hat Bücher verboten. Und zwar ausgerechnet jene katholische Erbauungsliteratur, die sich so großer Beliebtheit erfreute. Grund dafür war die beginnende Aufklärung, die derlei religiösen Kitsch ablehnte. "Es ist anzunehmen, dass Bücher deshalb verschwunden sind oder versteckt wurden", erklärt Span.

In der Zeit vor der Theresianischen Schulordnung stellt sich für den Historiker neben der Frage, was gelesen wurde, vor allem jene, wer überhaupt lesen konnte. Noch weniger Quellen gibt es zur Rezeption des Gelesenen. Bislang hat Span etwas mehr als 450 Inventare katalogisiert. Bücher werden in rund 100 genannt, viele ohne nähere Beschreibung. Bis auf sehr wenige Ausnahmen handelt es sich dabei stets um religiöse Literatur. (Steffen Arora, 10.6.2017)