Die Kinderärztin Joanne Liu bei einem Besuch einer medizinischen Einrichtung in Nigeria im Februar dieses Jahres. Vor allem die vermehrten Angriffe auf Helfer in Kriegsgebieten bereiten der Präsidentin von Ärzte ohne Grenzen Sorgen.

Foto: Malik Samuel / MSF

Für Aufsehen sorgte im vergangenen Jahr die Ankündigung von Ärzte ohne Grenzen, auf EU-Gelder zu verzichten. Damit, so die NGO, wolle man auf die Abschottungspolitik der Europäischen Union im Allgemeinen und das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei im Speziellen protestieren. Den Deal gibt es weiterhin, genauso wie viele andere Herausforderungen für humanitäre Helfer, sagt Joanne Liu, internationale Präsidentin von Ärzte ohne Grenzen (MSF), im STANDARD-Interview. Dazu gehöre politischer Druck auf NGOs und dass auch im Krieg immer wieder Grenzen überschritten werden.

STANDARD: Wie ermüdend ist es im Moment, humanitärer Helfer zu sein?

Liu: Ich denke, dass Ermüdung das falsche Wort ist. Die Menschen, für die wir arbeiten, die von Krieg oder einer Hungersnot vertrieben werden, die sind erschöpft. Die dürfen so etwas sagen, nicht ich.

STANDARD: Während der Flüchtlingskrise in Europa hat Ärzte ohne Grenzen zum ersten Mal ein politisches Statement gesetzt und auf Gelder der EU verzichtet. Welche Auswirkungen hatte das?

Liu: Der Preis war ein Loch im Budget, das wir mit unseren Reserven stopfen. Uns war von Anfang an klar, dass es nicht auf Kosten von bestehenden Projekten gehen darf. Wir haben diese Entscheidung innerhalb der Organisation heftig diskutiert. Doch es wäre scheinheilig gewesen, Geld von der Europäischen Union zu nehmen, wenn wir wissen, dass der EU-Türkei-Deal zum Leid der Menschen auf der Flucht beiträgt. Da wird ein sicherer Fluchtweg blockiert.

STANDARD: Glauben Sie, dass sich der politische Druck auf NGOs erhöht hat?

Liu: Ich habe keinen Vergleich, aber ich glaube, dass der Druck da ist und wir dagegen kämpfen müssen. Wir müssen uns den Herausforderungen gemeinsam stellen. Ich verstehe, dass es für Aufnahmestaaten schwierig ist und die Offenheit mit Unsicherheiten verbunden ist. Aber indem wir so tun, als gäbe es die 65 Millionen Menschen weltweit nicht, die auf der Suche nach Sicherheit sind, wird die Probleme nicht lösen.

STANDARD: Ein Helfer hat einmal gesagt, dass es nie ein "Goldenes Zeitalter der humanitären Arbeit" gegeben hat. Stimmen Sie zu?

Liu: Manchmal tendieren wir dazu, nostalgisch zu werden, aber die Realität ist, dass jedes Zeitalter seine Herausforderungen mit sich bringt. Auch wenn sich die Zeiten ändern, gibt es Regeln. Wir werden einen großen Schritt zurück machen, wenn weiterhin internationale Gesetze ignoriert werden.

STANDARD: Ist das die Herausforderung unserer Zeit? Die internationalen Gesetze zu erhalten?

Liu: Es gibt viele Herausforderungen. Aber der große Elefant im Raum ist im Moment die Angst und was noch mit dem Krieg gegen den Terrorismus einhergeht. Dabei werden Grenzen überschritten, Gesetze neu interpretiert. Wir wollen erinnern, dass es auch im Krieg Regeln gibt. Zivilisten sind keine Ziele. Heute zählt das nicht immer.

STANDARD: Ärzte ohne Grenzen teilt oft die Koordinaten der medizinischen Einrichtungen mit den kriegsführenden Parteien. Sie haben gesagt, dass Ihnen im Jemen die saudische Allianz geantwortet hat, dass das keine Sicherheitsgarantie ist. Wie gehen Sie damit um?

Liu: Das ist die große Frage. Nach dem Angriff in Kunduz in Afghanistan am 3. Oktober 2015 haben wir eine unabhängige Untersuchung gefordert, die wir nie erreicht haben. Die Tragödie war der Angriff auf etwas, das wir für selbstverständlich erachtet haben. Trotzdem reden wir mit allen Parteien. Aber wir haben noch nicht die Sicherheiten erhalten, um unsere Aktivitäten wieder aufzunehmen. Das Spital ist bis heute geschlossen. Einer Million Menschen wird der Zugang zu medizinischer Versorgung verwehrt, die sie dringend nötig haben.

STANDARD: Sie haben einmal gesagt, dass Sie Angst haben, dass wir vor einem gesellschaftlichen Rückschritt stehen, wenn es um die Kriegsführung geht.

Liu: Es gibt diesen Rückschritt. Die letzte Grenze für Menschlichkeit während eines Kriegs ist ein Krankenhaus. Krieg muss an der Spitalstür enden. Wenn man um sein Leben kämpft, sollte man nicht bombardiert werden. Das kann jeder nachfühlen, egal ob in Wien, Aleppo oder Sanaa.

STANDARD: Im Südsudan verfolgt MSF das Konzept, dass nationale Mitarbeiter mit den Menschen mitflüchten, wenn sie vertrieben werden. Wird es so etwas Ihrer Meinung nach öfter brauchen?

Liu: Wir versuchen uns anzupassen, ich glaube aber nicht, dass wir das Konzept in allen Krisenregionen anwenden werden. Im Südsudan herrscht eine sehr spezielle Krise mit vielen Facetten. Millionen Menschen sind auf der Flucht, die Lage bessert sich nicht. Der Grat an Gewalt übersteigt die Vorstellungskraft. Frauen haben mir vor Ort erzählt: "Wenn wir jedes Mal nach einer Vergewaltigung in die Klinik kommen würden, würden wir jeden Tag hier stehen." Ich kann nicht glauben, dass so etwas im Jahr 2017 passiert.

STANDARD: Als Präsidentin sind Sie auch ein wenig für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Bei welchen Krisen tun Sie sich schwer, die Aufmerksamkeit darauf zu lenken?

Liu: Zum Beispiel die Krisen in der Demokratischen Republik Kongo, im Südsudan oder in der Zentralafrikanischen Republik. Die Leute verlieren Interesse und Hoffnung, weil die Konflikte bereits lange andauern. Menschen unterstützen uns und wollen ein Ende des Leids sehen. Ich nehme es ihnen nicht übel. Aber deshalb sind diese Krisen so schwer in den Medien unterzubringen.

STANDARD: Am Ende des Tages: Was treibt Sie an?

Liu: Als ich ein Teenager war, habe ich das Buch Die Pest von Albert Camus gelesen. Es hat mein Leben verändert. Der Protagonist Dr. Rieu kümmert sich um die Opfer der Pest. Irgendwann fragt ihn jemand: Was treibt Sie an? Er antwortet: "Ich hab mich nie daran gewöhnt, Menschen sterben zu sein." Als ich das gelesen habe, habe ich mir geschworen, dass ich um Leben kämpfen werde. Ich arbeite mit Menschen ohne Wahl. Wenn man sein Kind in ein Gummiboot aufs Mittelmeer setzt, hat man keine Wahl. Aber ich habe sie. Und ich habe mich dafür entschieden zu helfen. (Bianca Blei, 8.6.2017)