Jede Anspielung auf die Querelen rund um seine Nachfolge verbietet sich Frank Castorf. "Das schwache Herz" – hier mit Kathrin Angerer, Daniel Zillmann und Margarita Breitkreiz – ist schon Komödie genug.

Foto: Thomas Aurin

Irgendwann fangen Leichen in ihren Särgen zu sprechen an, brechen ihr Schweigen und machen Konversation. Einen solchen Einfall für eine Novelle hat der untalentierte Feuilletonschreiber Iwan Iwanytsch: Er will Leichen belauschen. Manche, so hört er, regen sich über die sie behandelnden Ärzte auf, manche sind auf Klatsch und Tratsch aus, alles meist sehr niveaulos, doch eine der Leichen – und die irritiert Iwan Iwanytsch besonders – murmelt nur alle paar Monate ein unverständliches Wort: "Bobok."

Unverständliches Gemurmel

Wenn Frank Castorf sich nun noch ein achtes Mal Dostojewski für die Bühne vornimmt (viele Dostojewski-Inszenierungen waren Koproduktionen mit den Wiener Festwochen) und damit endgültig Abschied von der Volksbühne nimmt, hat er komödiantisch und selbstironisch an diesem Abend sein Theater nun auch zum Friedhof gemacht, ein Grab für sich ausgeschaufelt und ein unverständliches Gemurmel ans Ende gesetzt. Dostojewskis Erzählung Bobok hat er dabei mit einer weiteren Novelle, Ein schwaches Herz, und mit der schrillen sowjetischen Filmkomödie aus den 70er-Jahren mit dem Titel Iwan Wassiljewitsch wechselt den Beruf (nach einem Bühnenstück von Michail Bulgakow) verschränkt.

Schon seit Monaten hat das große Abschiednehmen von den Inszenierungen Christoph Marthalers, René Polleschs, Herbert Fritschs und Frank Castorfs an der Berliner Volksbühne begonnen, und damit wohl auch der Abschied von einem Vierteljahrhundert Berliner, ja deutscher Theatergeschichte. Allabendlich lange Schlangen vor der Kassa, doch die Vorstellungen sind schon seit Wochen ausverkauft. Zu Castorfs Abschiedsreigen gehören dennoch auch immer wieder Überraschungen, wie nun der plötzliche Plan, nach dem eigentlichen Abschluss mit Goethes Faust doch noch eine leichte, unscheinbare Komödie nachzulegen. Für Castorfs Inszenierungen kurz geraten, aber immerhin auch noch ohne Pause vier Stunden lang. Jede platte kabarettistische Anspielung auf die Querelen um seinen Nachfolger Chris Dercon verkneift sich Castorf dabei konsequent.

Wahnsinniges Gewissen

Ein schwaches Herz hat Wassja Schumkopf, er ist ein fleißiger Kopist mit großem Arbeitspensum, aber auch großen Schreibhemmungen. Obwohl Wassjas Arbeit "nicht so besonders wichtig ist", wie es bei Dostojewski heißt, wird er aus Gewissensbissen wahnsinnig. Im Finale, wenn das Theatergeschehen in einen Stummfilm – mit Zitaten aus Panzerkreuzer Potemkin und Das Kabinett des Dr. Caligari – übergeht, wird er schließlich in die Irrenanstalt abtransportiert. Aus dem Fenster des Krankenwagens kann man dann rückblickend die kleiner werdende Volksbühne sehen. Eine Selbstinszenierung Castorfs oder die Darstellung seines Gegenbilds?

Noch einmal tobt sich die Spiellust der Volksbühne exzessiv aus, fast schon provokativ konventionell, ungeniert, manchmal wie in einem Komödienstadel, manchmal russische Klischees und Akzente betonend (Margarita Breitkreiz) und oft gerade im Unfertigen virtuos: Daniel Zillmann musste zwei Tage vor der Premiere für Hendrik Arndst einspringen. An seiner Seite daher immer wieder Deutschlands vielleicht berühmteste – zumindest die am meisten eingesetzte – Souffleuse Elisabeth Zumpe. Jeden Satz muss sie Zillmann vorsprechen, den dieser dann als Iwnytsch überaus expressiv ausagiert. Dabei muss sie mit dem Soufflierbuch über eine lange Bühne mitten zwischen das Publikum hasten. Betten, Türen, Tische sind dort für die Komödianten aufgestellt. Es wird viel gelaufen.

Strukturiert und archaisch

Besonders beeindruckt Georg Friedrich. Als Wassja wirft er sich immer und immer wieder nur für Sekunden in sein Bett, um vergeblich einen kurzen Schlaf zu finden und dann endlich sein Schreibpensum erfüllen zu können. Voll unterdrückten Selbstmitleids, gleichzeitig mit grausamer Selbstdisziplin, leidet er an seinen Gewissensbissen und Arbeitsblockaden, auch wenn ihn mit großer Geduld sein Freund (Max Schlüpfer) zu begütigen versucht. Manchmal unerträgliche Längen gehören auch zum Castorf-Theatervergnügen. Etwa wenn Wassja umständlich lang für den Kauf eines rosa Häubchens für seine Braut (Kathrin Angerer) bei Madame Leraux (Jeanne Balibar) braucht.

Ein schwaches Herz ist ein strukturierter und anarchischer Abend gleichzeitig: "Bobok", ein Abschied als absurdes Gemurmel aus dem Grab, doch gerade deshalb berührend und unerschrocken lebendig. (Bernhard Doppler aus Berlin, 7.6.2017)