Ein Militär hat eigentlich nie die richtige Größe: In Friedenszeiten sind präsente Kräfte relativ teuer, vor allem dann, wenn sie nichts Besseres zu tun haben, als sich mit der eigenen Ausbildung und der Erhaltung des schon einmal Gekonnten zu befassen. Im Ernstfall aber reichen diese Kräfte nicht aus, um die plötzlich auftretenden Aufgaben zu erfüllen. Dabei braucht man beim Begriff "Ernstfall" nicht gleich an einen großen Krieg zu denken. Ein flächendeckender Stromausfall ("Blackout"), ein absichtlich oder unabsichtlich herbeigeführter Austritt von Chemikalien, eine Bedrohung von ausländischen Vertretungen reicht schon, um die Republik durcheinderzubringen und nach der Assistenz durch Soldaten rufen zu lassen.

Wenn diese denn verfügbar sind. Das Bundesheer, in der Zeit des Kalten Krieges aufgestellt und stets unterfinanziert, hat dafür ein flexibles System entwickelt, das sich in sechs Jahrzehnten gut eingespielt hat: Da gibt es einerseits präsente Kräfte, die den Friedensbetrieb des Militärs gewährleisten und sowohl Ausbildung als auch schnelle Reaktionsfähigkeit sicherstellen. Andererseits hat man seit den 1970er-Jahren die Reserven (also fertig ausgebildete und ins Zivilleben entlassene Soldaten) in ein Milizsystem integriert. Im Endausbau sollten 220.000 Soldaten aller Ränge in einer eigenständigen Struktur regelmäßig beübt und im Ernstfall zur territorialen Verteidigung eingesetzt werden.

Zahlenmäßig wurde das längst reduziert, das Prinzip aber wurde beibehalten. Und das Reservepotenzial der Milizsoldaten wurde genutzt, um für militärische Aufgaben im Inland (etwa Bewachung von Botschaften) und im Ausland (Friedenstruppen in Bosnien oder dem Kosovo, in kleineren Kontingenten auch in Mali oder Afghanistan) genügend Personal aufzubringen. Die Auslandseinsätze ergänzen die Ausbildung um praktische Erfahrung.

Das ist alles schön und gut. Dem Verfassungsgebot, die Landesverteidigung milizartig zu organisieren, ist man dabei allerdings nicht nachgekommen. Der aktuelle Mobilmachungsrahmen von 55.000 Mann könnte nicht annähernd von den 25.400 Milizsoldaten befüllt werden. Von eigenständigen, von Milizoffizieren geführten Verbänden ist schon lange nicht mehr die Rede.

Das Einsatzheer, das das Bundesheer seinem Selbstverständnis nach ist, muss sich im Wesentlichen auf präsente Kräfte stützen.

Österreich hat de facto ein Berufsheer, das sich für Einsätze niedriger Intensität auf die gerade in Ausbildung befindlichen Rekruten stützen kann. Wenn größere Professionalität erforderlich ist, dann bedient man sich gerne einzelner Milizsoldaten. Das Aufbieten ganzer Milizverbände oder eine (Teil-)Mobilmachung kommt eher in Planspielen als in der Realität vor; selbst bei der Jugoslawienkrise 1991 wurde es vermieden.

Natürlich ist es richtig, dass Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil angesichts wachsender Aufgaben die Miliz stärken will – aber weit über den Rahmen einer gut gerüsteten Reserve kommt er nicht hinaus: Derzeit fallen gerade einmal 100.000 Milizübungstage pro Jahr an – im Schnitt rückt also jeder Milizsoldat alle zwei Jahre für eine Woche ein.

Das soll gesteigert werden – ebenso wie die Zahl der Milizsoldaten erhöht und ihre Ausbildung verbessert werden soll. Aber eine Milizarmee, wie sie die Schweizer haben und die Verfassung fordert, ist das noch lange nicht. (Conrad Seidl, 7.6.2017)