Wien – Gebrauchte Schallplatten sind wie Flaschenpost. So formuliert es die ehemalige Musikkritikerin Clara (Sônia Braga) im Interview mit einer jungen Frau einmal sehr schön. Sie illustriert ihre Aussage am Beispiel von John Lennons Album Double Fantasy. Versteckt im Cover der Platte, die über Umwege nach Brasilien kam, habe sie damals auch einen Artikel gefunden, der sich über die Zukunft des Ex-Beatles Gedanken machte. Bekanntlich hatte er keine mehr. Drei Wochen nach Veröffentlichung der LP wurde Lennon erschossen.
Die Szene aus Kleber Mendonça Filhos Film Aquarius erzählt viel von der Geisteshaltung einer im 20. Jahrhundert sozialisierten Frau, die daran festhält, dass Gegenstände nicht einfach Gegenstände sind. Sie sind mit einer Aura behaftet, die sie mit der Vergangenheit verbindet, im besten Fall mit unserer eigenen: Das heißt dann Erinnerung. Diese bestimmen maßgeblich mit, wer wir sind. Gegen digitale Mittel hat die Musikliebhaberin Clara aber auch nichts einzuwenden.
Aquarius, der zweite Spielfilm des Brasilianers und ehemaligen Filmkritikers Filho, ist dem gleichen wertschätzenden Blick auf die Welt der Dinge verpflichtet. In einem Prolog, der noch in den 1980ern spielt, wird der 70. Geburtstag von Lucia, einer Tante von Clara, gefeiert. Während Kinder und Enkel über ihre Karriere Reden schwingen, den Bildungsweg dieser Frau rühmen, hakt sich der Blick der Gefeierten an einer Kommode fest. Und plötzlich sehen wir ihre Gedanken – wie sie mit ihrem Geliebten auf ebendiesem Möbel leidenschaftlichen Sex hat. Ein privater Augenblick, ein Erinnerungsblitz, wie man ihn höchstens mit einem imaginären Kinopublikum teilt.
Lob der Beharrlichkeit
Immer wieder weitet sich die Perspektive des Films auf vergleichbare Weise von subjektiven Erfahrungen ins Gesellschaftliche. Allerdings sanft schwebend, am Horizont der großartigen Hauptfigur ausgerichtet. Die 65-jährige Clara bewohnt immer noch dasselbe Apartment mit Kommode am Strand von Recife. Sie ist die letzte Bewohnerin im Haus, alle anderen gingen auf Druck der Immobilienfirma. Claras Beharrungsvermögen ist so groß wie ihre Vinylsammlung. Sie weigert sich, den mit Erinnerungen besetzten Ort aufzugeben. Der Prospekt des Neubaus, den man ihr durch den Türschlitz zuschiebt, wandert wieder zurück.
Doch man täte Aquarius unrecht, würde man sich ganz auf den Konflikt einlassen, dessen Härte und Niedertracht mit der Zeit zunimmt. Denn die Stärke des Films liegt gerade in der Abschweifung, in der Betonung des vermeintlich Nebensächlichen. Mit Sônia Braga, die in ihrer Heimat ein Superstar ist, hat Filho dafür eine kongeniale Partnerin an der Seite.
Es ist ein Ereignis, all jenen Routinen zuzusehen, denen sie niemals abschwören wird. Wenn sie schwimmen geht oder am Nachmittag in der Hängematte döst; wie sie mit Freundinnen zum Tanz geht und nach einem Kuss etwas betrunken nach Hause kommt, eine Platte auflegt und dazu tanzt; oder wenn sie im Kreis ihrer Kinder ihren Eigensinn mit den Worten verteidigt, dass sie eben Frau und Kind zugleich sei.
Filho erzählt seinen außergewöhnlichen Film mehr nach der Art eines Familienalbums, in dem man Seite für Seite durchblättert. Mal bleibt man länger hängen, mal kürzer. Mal zoomt man in ein Bild hinein, mal sucht man steile Winkel. Clara ist eine unabhängige Frau, doch sie wird nie zum Vorzeigecharakter im Stile dieser unsäglichen "Best-Agers-Filme". Allein mit welcher Umsicht der Film den Umstand ihrer nach einer Krebserkrankung operierten Brust behandelt – meist in intimen Situationen mit Männern, die sich für die "falsche" Seite entscheiden.
Wenn sich Aquarius schließlich doch dazu aufschwingt, zur Geschichte des Widerstands gegen spekulative Immobiliengeschäfte zu werden, ist man von der Dichte des davor Gesehenen schon so erfüllt, dass es nicht nach falschen Erbaulichkeiten schmeckt. Wenige Filmemacher vermögen mit vergleichbarem Nuancenreichtum vom Miteinander der Generationen zu erzählen. Darüber hinaus porträtiert Filho in Aquarius mit hoher Sensibilität einen gehobenen Mittelstand, der sogar um die eigenen Defizite, den Preis seines sozialen Aufstiegs weiß: "Das alles ist unvermeidbar", sagt Claras Tochter einmal in Bezug auf wechselseitige Ausbeutungsverhältnisse. Doch es gibt auch eine Grenze der Toleranz. Und jenseits davon beginnt die Zukunft. (Dominik Kamalzadeh, 9.6.2017)