"Ich bin überzeugt, dass es in der Literatur wie im Leben kein Ende gibt": J. M. G. Le Clézio.

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J. M. G. Le Clézio, "Sturm". Aus dem Französischen von Uli Wittmann. € 20,60 / 240 Seiten. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017

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Randlagen und Entwurzelten gilt das besondere Interesse des Nobelpreisträgers J. M. G. Le Clézio. Vor drei Jahren hat er dafür die in Frankreich, wo manche Romane kaum über hundert Seiten hinausgehen, ungewöhnliche Form der "novella" gewählt und zwei dieser konzentrierten Prosastücke in einem begeistert aufgenommenen Band vereint. Nun ist Sturm auf Deutsch in einer Übersetzung erschienen, die neben ein paar Fehlern den für Le Clézios Werk so bezeichnenden Klang, die hochgelobte "musicalité", nicht immer vermittelt.

Die Novellen drehen sich um ein Geheimnis, um das Ende der Unschuld, um eine Suche mit ungewissem Ausgang. Sie spielen in Regionen, die uns nicht als zentrale Lagen gelten: die eine auf einer kleinen südkoreanischen Insel im Japanischen Meer, die andere in Ghana, in einem Pariser Vorort und in der nordwestfranzösischen Provinz.

Der frühere Kriegsfotograf Philip Kyo kehrt nach 30 Jahren auf das abgelegene Felseneiland Udo zurück. Seinerzeit war es ihm Zufluchtsstätte gewesen, mit einer geheimnisvollen Sängerin, die dann im Meer verschwand. "Ich wollte mich nur vergewissern, dass nichts mehr da war, die Vergangenheit nicht mehr existierte und ich nichts mehr empfand." Die alte Schuld und der Makel der Gefängnisstrafe, die Lustnächte mit der Verschwundenen und die Empfindungen lassen sich schwer abschütteln, umso weniger, als die 13-jährige June auftaucht, mit der sich der knapp Sechzigjährige anfreundet. Ihren Vater kennt sie nicht, ihre Mutter verdient als eine jener "Seefrauen" mit Tauchzügen schwer ihr Leben.

Fortgewehte Jahre

Die Begegnung des Mannes an der Grenze zum Alter und des Mädchens an der Grenze zur Frau braucht beide Sichtweisen. Le Clézio erzählt sie (bei der Lektüre anfangs des zweiten Kapitels schön überraschend) abwechselnd aus dem Inneren der beiden Figuren, mit je eigenem Duktus.

So werden unterschiedliche Einschätzungen und Vorstellungen erkennbar, so lassen sich Wunden schildern, die nicht nach außen dringen. June verfügt über den starken und zugleich empfindlichen Stil einer jugendlichen Außenseiterin; "Mr Kyo", wie sie ihn nennt, über den eines Schriftstellers. Aus den zwei Blickwinkeln bringen sie weitere Hauptdarsteller in den Blick.

Wie ihnen Le Clézio die Insel, den Sturm, den Ozean und die Welt unter Wasser in den Mund legt, zeugt von großer Sprachkunst. Die "musicalité" ersteht aus dem Rhythmus mit passend gesetzten Wiederholungen wie das an- und abschwellende Sausen des Windes, verbunden mit den Motiven der Novelle: Der Wind habe "die Jahre fortgeweht", er "verwischt hier alles, nutzt alles ab". Ein gewichtiges Wort von Mr Kyo erfährt man aus Junes Perspektive, sodass es für beide Figuren zu gelten vermag. "Sehen Sie doch das Meer an. Es scheint zu leben", sagt er. Es gebe der tauchenden Mutter die Lebensgrundlage, aber "das Meer ist auch ein Abgrund".

Die zweite Novelle beginnt mit dem Satz: "Ich bin beim Anblick des Meeres erschauert." Dieses Ich ist Rachel. Sie lebt in Afrika unweit des Strandes in ihrer scheinbar begüterten Familie, in der sie allerdings ihre Herkunft zur Außenseiterin macht. Vom Vater erfährt sie kein Wort über ihre leibliche Mutter, die Stiefmutter nennt sie "Rachel Namenlos", "Tochter einer in einem Keller vergewaltigten Nutte".

Geheimnis der Herkunft

Nur zur jüngeren Stiefschwester empfindet sie eine Mischung aus Zuneigung und Verantwortung. Mit dem materiellen Niedergang zerbricht die fragile Fassade, sodass sich Rachel aus der geliebten afrikanischen Umwelt gerissen findet. In einem grindigen Vorort von Paris erlebt sie ihren eigenen Niedergang, bis sie dem Geheimnis ihrer Herkunft auf die Spur kommt.

June und Rachel sind literarische Zwillingsschwestern auf Identitätssuche, ebenso verletzlich wie stark. In beiden Novellen unterminiert eine traumatische Vergangenheit die Gegenwart, in beiden setzt mit Vergewaltigung und Zeugung das Räderwerk einer andauernden Schuld ein. Das Schicksal ist durch Gewalt und Verschwinden bestimmt. Was hat sich im früheren Leben der Erwachsenen ereignet, was spielt sich hinter ihren verschlossenen Türen ab, lauten die Fragen. Wie die beiden Mädchen sind Junes Mutter und Kyo, dem Le Clézio einen Namen aus La condition humaine von André Malraux gegeben hat, Randerfahrungen ausgesetzt. "Ich bin auf der schlechten Seite der Welt", sagt Kyo zu June.

Die Hauptfiguren gehören nirgendwo ganz dazu, die Vergangenheit möchten sie aus ihrem Gedächtnis streichen. In ihrer existenziellen Heimatlosigkeit wechseln sie zwischen Abtauchen und Auftauchen. Was es nach dem Sturm für sie gibt, bleibt offen. "Ich bin überzeugt", betonte Le Clézio, "dass es in der Literatur wie im Leben kein Ende gibt." Mit Sturm ist ihm eine beeindruckende Erzählung über die Stürme der Welt und des Inneren gelungen. (Klaus Zeyringer, 9.6.2017)