Autor Andrew Miller.

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Andrew Miller, "Nachts ist das Meer nur ein Geräusch". € 24,70 / 368 S. Zsolnay-Verlag, Wien 2017

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Wie beginnen Romane? Im vorliegenden Fall beantwortet der Autor die Frage gleich im zweiten Absatz, der nur aus diesen Worten besteht: "Es beginnt also einfach mit Arbeit."

Klar und schnörkellos ist zu lesen, wie zwei Menschen ein Segelschiff seetüchtig machen. Die Koordinaten sind gegeben: die Nullerjahre im neuen Jahrtausend, irgendwo an der südwestenglischen Küste. Die beiden Studenten Tim und Maud kennen einander kaum, er macht sich Gedanken, was "daraus" werden könnte.

Und dann passiert etwas, "das Huschen eines gefiederten Schattens". Er hat es gar nicht wirklich wahrgenommen, dass sie vom Bootsdeck abgestürzt ist. Sie ist schwerverletzt, die Hafenarbeiter leisten Hilfe, rufen die Rettung. Tim aber "steht wie am Boden festgenagelt".

Das ist das eine merkwürdige Detail der sich nun entspinnenden Geschichte in Andrew Millers neuem Roman Nachts ist das Meer nur ein Geräusch. Das andere ist: Man hat den Sturz nicht gehört, sie hat nicht geschrien, ist unbemerkt geblieben.

Das wundert Tim zunächst nur am Rande. Er macht ihr den Hof. Sie heiraten, ziehen in ein Landhaus, sie haben eine Tochter, kaufen ein seetüchtiges Boot. Das könnte alles so normal und konventionell sein.

Wachsende Entfremdung

Doch Tim wird dieses Gefühl nicht los, dass zwischen ihnen eine unsichtbare Mauer wächst. Auf eine rätselhafte Weise, die sich nie auflöst, bleibt die attraktive junge Frau ungreifbar für ihn und für alle, die sie kennenlernen. Oft sachlich, manchmal in feinen, sarkastischen Pinselstrichen deutet Miller die wachsende Entfremdung an.

Er porträtiert die Klassenunterschiede zwischen ihren Familien, Tims Eltern als versnobte Landadelige, die von Maud als kleinbürgerliche Lehrer. Und dann ist da noch diese Tätowierung auf dem Unterarm, die ihrem zukünftigen Schwiegervater gleich auffällt: "Sauve Qui Peut" – "Jeder muss sehen, wo er bleibt", wie ein Verwandter gleich übersetzt, oder eigentlich "Rette sich, wer kann". Auch ihr Chef – sie arbeitet als Biologin für einen Pharmakonzern, während Tim als Gitarrensammler und Komponist dilettiert – wundert sich, doch sie ist tüchtig, man nimmt ihre Art hin.

In das Arrangement von Maud und Tim platzt eine Tragödie. Sie soll hier nicht näher beschrieben werden, auch deswegen, weil der Autor selber das Geschehnis nicht direkt anspricht, vielmehr in meisterhafter Form den Leser langsam daran teilhaben lässt, wie es sich auf die Beteiligten auswirkt und dadurch erst klar wird, was passiert ist.

Als Folge des Ereignisses lässt Maud ihr ganzes bisheriges Leben hinter sich: "Die Gartenpforte schlägt hinter ihr zu. Sie blickt nicht zurück." Sie versorgt sich mit dem Nötigen, geht an Bord und segelt los, auf dem Atlantik Richtung Westen, ohne klares Ziel.

Auf fast hundert Seiten beschreibt Andrew Miller im grandiosen zentralen Teil des Romans, der auf Englisch auch The Crossing heißt, ihre tägliche Routine, ihren Kampf mit den Elementen. (Der Leser lernt viel über das Handwerk des Segelns – "Als Erstes macht sie aus zwei roten Dyneema-Schoten die Backstagen, führt die Leinen nach hinten zur Plicht und holt die Lose mit den Winschen durch" -, der Übersetzer ebenfalls, er dankt im Nachwort "für Hilfe in nautischen Fragen".)

Es geht ums Überleben

Es geht ums Überleben. Hier kommt Maud zugute, was auf dem Festland die anderen gestört hat, jene "animalische Gabe des Schauens, jenes beherrschte Betrachten aus der Deckung heraus, das ihr Wesenskern zu sein scheint". Um Leben und Tod geht es in einem Sturm, der den Mast bricht. Auf eine andere, misslungene Überquerung verweist Treibgut, das sie auffischt und das den Leser deutlich an den Absturz einer Air-France-Maschine im Frühjahr 2009 erinnert. Sauve qui peut. An einer unbekannten Küste geht sie an Land und taucht in eine verwirrende Gegenwelt ein. Sie findet ein Camp voller Kinder im Dschungel, ohne Erwachsene. "Pa", erfährt sie, ist abgereist, "vielleicht nach Huntsville, Alabama". "Ma" ist gestorben. Die gespenstische Erinnerung an das Sektencamp Jonestown in Guyana kommt nicht von ungefähr, doch Miller geht es in diesem dritten Teil eher darum, wie sich Maud zurechtfindet. Wie früher handelt sie pragmatisch, obwohl sie ahnt, "dass die Zeit für Pläne vorbei ist". Sie kümmert sich um die Kinder – und bleibt doch auch für sie ein Rätsel.

Schließlich reist Maud weiter, auf ein unbekanntes Ziel zu und ganz sicher nicht zurück. Im kurzen letzten Kapitel geht es um einen Wagen, der schon zu lange in einem Hafen in Südwestengland parkt. Die Männer, die Maud bei den Arbeiten am Boot geholfen haben, kommen überein, dass er abgeschleppt werden muss. An der Fahrertür "hat einer von ihnen ein kleines Herz in den Staub gezeichnet".

Miller vergegenwärtigt die Gefühlswelt von Menschen souverän und ohne im Mindesten gefühlsduselig zu werden, vielmehr als intelligenter Beobachter, der sich in britischen Provinzverhältnissen ebenso zurechtfindet wie in einer surrealen Wildnis.

Anders als in Die Gabe des Schmerzes, vor zwei Jahrzehnten ebenfalls bei Zsolnay erschienen, porträtiert er hier eine Frau, die Schmerz und Trauer entweder kaum spürt oder es sich zumindest nicht anmerken lässt. Muss jeder sehen, wo er bleibt? Man weiß es bis zum Schluss nicht. Doch das tut der Lektüre keinen Abbruch, im Gegenteil. (Michael Freund, 11.6.2017)