Was man von der Welt gesehen hat, ist ja immer die Frage. Im Wettbewerb der Weltläufigkeit stecken noch Reste des kolonialen Erbes.

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Gibt es zu viele Inder? In Chandigarh trafen wir einen chinesischen Architekten der neuen Erfolgsgeneration, klug, offen, gewieft – und arrogant. Überbevölkerung sei gar kein Problem, meinte er, im Gegenteil, "people are resources".

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Indien ist groß, und es ist schwer geworden, über das Fremde zu erzählen. Immer gibt es welche, die schon da waren und es besser wissen. Oder welche, die mehr gelesen haben.

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Schriftstellerin Andrea Roedig.

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Warum in die Ferne schweifen, wenn das Gute liegt so nah", pflegte mein Vater zu sagen, und ich habe ihn gehasst für diesen typischen Spruch der 1970er-Jahre, aus denen auch das Wort "Balkonien" stammt, um auszudrücken, dass man im Urlaub genauso gut zu Hause bleiben kann – die Flüge nach Mallorca, Teneriffa et cetera waren damals ja noch nicht so billig. Was an dem Vater-Satz so ärgerte, war nicht die Aussage über die Ferne, sondern die über das Gute. Man fährt doch nicht weit weg, um es schön zu haben, dachte ich wütend. Man fährt weg, um sich befremden zu lassen, sich auszusetzen, sich etwas zuzumuten. Damals reiste ich, 30 Jahre ist das jetzt her, mit meinem Bruder auf eigene Faust nach Ägypten, weil er unbedingt die Pyramiden sehen wollte. Wir waren jung, buchten einfach einen Flug ab Berlin-Schönefeld, das noch in der DDR lag, und es begann eine Reise, die genau deshalb unvergesslich war, weil wir vier ganze Wochen lang nicht einen einzigen schönen Platz fanden; selbst Hurghada am Roten Meer war noch ein reines Nichts, aus dem ein paar Betonpfeiler ragten.

Im Gegensatz zu meinem Bruder, der seitdem viele Fernziele angesteuert hat, bin ich keine große Reisende geworden. Doch jetzt wollte ich raus, mal wieder ein richtiges Abenteuer so wie damals, eine Zumutung, und die sollte Indien heißen. Wieder reiste ich mit meinem Bruder, wir hatten uns für den Norden entschieden, Ankunft Delhi, Abflug Mumbai, alles weitere sollte ungeplant bleiben. Auf die Frage, warum es ausgerechnet Indien sein muss, konnte ich nur antworten: "Weil es mir Angst macht." Mein Bruder wiederum fand interessant, dass dieses Land offenbar wie kein anderes polarisiert: "Either you love it or you hate it", heißt es von Indien. Na, schau'n wir mal.

Auf muffige Art spicy

Den Subkontinent hatte ich mir vorgestellt wie einen Schock. Die erste Befremdung aber war, dass ich hier nichts sah, was ich nicht schon irgendwie erwartete oder kannte. Es gab Erschreckendes, etwa den Mann am Bahnhof in Chandigarh, der seine von Elephantiasis unglaublich aufgeblähten, kopfkissengroßen Füße so auf dem Lenker seiner Rikscha abgelegt hatte, dass er selbst dahinter komplett verschwand. Oder die Frau, die mit ihren Kindern auf dem Mittelstreifen einer stark befahrenen Straße hockte. Ich lächelte sie aus dem Tuk-Tuk heraus an, worauf sie eines ihrer Kinder schickte, das mich am Ärmel zupfte und die Hand zum Mund führte wie ein Automat. Das Eigenartige ist, dass der Schock – wie die Gewöhnung – den Blick verschließt, man schaut nicht wirklich hin.

Doch das Befremdende an Indien liegt nicht im Detail, sondern im Ensemble. Alles kommt mit sagenhafter Wucht daher, geballt, gedrängt, verschärft und immer als Gemisch. In Indien ist das Einzelne nie einzeln; das Land erschien mir wie eine rasende Melange, oder besser: ein Masala, denn exemplarisch für diesen Eindruck könnten die indischen Speisen stehen, deren Ingredienzien ja stets schwer auszumachen sind, oder auch die bunten Druckmuster der Kleidung, auf denen Dreck nicht so sehr auffällt. Die einzelnen Komponenten sind zu einem Gewusel zusammengemischt, einem Brei, der keinesfalls lau schmeckt, sondern auf muffige Art spicy.

Irreale Wirklichkeit

So irreal wirkte diese Wirklichkeit, dass sie mich immer wieder ungläubig grinsen ließ: "Du bist in Indien. Echt?" Es knallt dich zu mit Farben, Geräuschen, Gerüchen, dem maßlosen Übereinander von Schildern und diesem Wahnsinn an Verkehr. Warum man zu Hause einen Radhelm trägt, hier aber dem Rikschafahrer vertraut, der sogar noch seinen Sattel als Sitzplatz verkauft und im Stehen tretend sein Gefährt in den Kreisverkehr stürzt, ist eigentlich ein Rätsel. Im Grunde fühlten wir uns wie auf dem Rummel und verfielen in dieses typisch überdrehte Kirmeslachen, wenn Bus oder Tuk-Tuk bei wilder Fahrt über Schlaglöcher arg ins Schwanken gerieten. Als könnte doch nichts wirklich passieren. Gerade in Old Delhi, das mit seinen zerfallenen Häusern, streunenden Hunden, offenen Feuern, höhlenartigen Geschäften wie ein Mittelalterspektakel anmutet, stellte sich die alte philosophische Frage: Existiert das auch, wenn man nicht hinschaut? Mein Bruder jedenfalls hatte den Verdacht, dass die Inder auf der Stelle mit dem Gehupe, Gezerre, Geschiebe, Gedröhne aufhören, alle Bewegung stoppen, sobald die Touristen die Szene verlassen.

Wie viel kann man begreifen, wenn man sich nicht auskennt in einem Land? Es gibt wohl kaum eine trostlosere Haltung als die Spielzeugbefremdung des Exotismus, dieses "Aha und oho" des Sightseeings, erlebnisreich und erfahrungsarm, bei dem man genau deshalb nichts sieht, weil es was zu sehen gibt. Tourismus jedenfalls ist organisierter Selbstbetrug und eine Form von Dummheit, aus der es erst mal keinen Ausweg gibt. Unvermeidlich wurden wir in Delhi in die Falle gelockt mit dem Versprechen auf einen Stadtplan, den wir in der Touristeninformation – gleich dort drüben, keine 100 Meter weit – erhalten könnten. Mr. Riyaz, auf dessen Visitenkarte "Government of India" stand, nahm sich gut aussehend und mit Charme unserer an, der angebliche Stadtplan lag zusammengefaltet neben seiner linken Hand. Nur mit Mühe kamen wir nach geschlagenen 45 Minuten ohne Pauschalreise und ohne Stadtplan aus seinem Laden heraus und wurden an dem Tag noch mehrmals angesprochen: Am Connaught Place in Delhi trieben sich wahnsinnig viele falsche Reiseagenten herum. Inder warnen sehr gern vor den Indern.

Dreck und Reinheit

Befremdung tritt da ein, wo die eigenen kulturellen Welt- und Wertvorstellungen betroffen sind; sie muss wehtun, sonst bewirkt sie nichts. Schmerzhaft befremdlich und definitiv untouristisch ist in Indien der Schmutz. "Dreck und Elend sind überall und allumfassend, sie erscheinen so ursprungslos und unvermeidlich wie das Tageslicht selbst", schreibt der in Großbritannien geborene Autor Aatish Taseer über das Land. Die Luft in Agra war so schlecht, dass in den Morgenstunden der Taj Mahal vom Eingangstor aus nicht zu sehen war, die Dimensionen der Sichtachsen dieses Weltwunders sind klarerweise nicht auf Smog ausgelegt. An einem Straßenstand sah ich Taschen, deren Farben vor Staub schon nicht mehr zu erkennen waren, die aber dennoch fröhlich zum Verkauf aushingen. Auch hier ist es nicht der Schmutz als solcher, sondern die Intensität, die das Befremden auslöst.

Sein Ausmaß und der Umgang mit ihm können schon erschrecken oder, cooler gesagt, erstaunen. Der Psychoanalytiker Sudhir Kakar erklärt das indische Verhältnis zum Dreck mit im Vergleich zum Westen anders gelagerten Tabus. Dreck müsse hier nicht – wie im Westen – versteckt, sondern ausgeleitet werden, das sei die Vorstellung, weshalb Körperöffnungen, Spucken und Stuhlgang kaum mit Scham belegt seien und anal besetzte Flüche wie "Scheiße" oder "Arschloch" fehlen.

Indien flucht in Inzestmetaphern. "Während auf die eigene Reinlichkeit (...) oft peinlich genau geachtet wird, wird Dreck im öffentlichen Raum ignoriert", heißt es bei Kakar. Nicht gewöhnen konnte ich mich an diese elendslangen Müllhalden, die sich stadtauswärts seitlich der Bahnstrecken hinziehen und in deren Mitte Menschen leben. Kinder spielen auf den Gleisen, Männer gehen spazieren, Schweine und Kühe wühlen im Abfall, eine alte Frau hatte sich sogar ihr Bett auf ausrangierte Schienenteile stellen lassen. Deprimierend war es, die Bahndammszenen durch die verschmierten Zugfenster hindurch zu beobachten.

Paradoxon der Reinheit

Gleichzeitig ist Indien besessen von den eigenen Reinheitsvorstellungen. Schuhe sind in heiligem Gelände immer auszuziehen. In der Pilgerstadt Pushkar ging das so weit, dass man auf den zum See hinabführenden Treppen, den Ghats, Schuhe noch nicht einmal in der Hand tragen darf, während Pilger hingebungsvoll die Tauben mit eigens gekauften Körnern füttern, Kühe seelenruhig in den Ganesha-Tempel scheißen oder auf Gebetsteppiche pissen, woran niemand sie hindern würde. Wasser selbst ist heilig und wird in allen erdenklichen Formen rituell verwendet, im heiligen Wasser wird gebadet, und es wird auch alles Mögliche hineingeworfen, Blumen, weiße Zuckerkügelchen, Kokosnüsse, Göttergaben aller Art.

Paradox in unseren Augen ist, dass die Riten immer darauf hinauslaufen, das reinigende Wasser zu verunreinigen. Dieses Rätsel löste ein smarter junger Inder aus Mumbai, indem er gütig darauf hinwies, dass wir den Sinn dieser Waschungen zu wörtlich nehmen: "It's not about dirt, it's about liberation."

"Die Grundwahrheit des indischen Lebens ist: Es gibt zu viele Inder", schreibt gnadenlos der große Reisende Paul Theroux. Die Inder selbst sagen das auch. Aber so wie es im Inneren eines Hochgeschwindigkeitszugs nicht möglich ist, festzustellen, wie schnell man wirklich ist, so ist auch in Indien selbst die Bevölkerungsfülle schwer einzuschätzen. Es gibt eben überall Menschen, und alle bringen sich durch – irgendwie, meist mit Handel. Davon zeugt das schier endlose Gedärm der Basarstraßen, in denen immer dasselbe angeboten wird: Tücher, Töpfe, Holzwaren, Schuhe, Uhren, Kleidung, Devotionalien aller Art. Man sollte wirklich einmal aufräumen mit dem romantischen Reiseführer-Mythos des Basars als Inbegriff der Lebendigkeit. Der Basar ist der Inbegriff des Netzes, ein Labyrinth ohne Zentrum unter dem Bann der ewigen Wiederkehr. Es gibt hier nicht "alles" zu kaufen, sondern nur manches besonders oft. Wir übten uns in dem Spiel, zu entdecken, was es nicht gab: Toilettenpapier, Kaugummis oder Friseursalons für Damen.

Labyrinth ohne Zentrum

Das Betteln ist ein Geschäft in verschiedenen Mobilitätsstufen. An manchen Orten laufen die Kinder den Touristen mehrere dutzend Meter hinterher und lassen nicht locker, mittelalte Frauen begnügen sich mit ein paar Metern im Verlangen, Bananen gekauft zu bekommen, dann gibt es die, die am Boden bleiben und die Arme ausstrecken wie Schlingpflanzen im Wasser, und manche sitzen nur da und tun gar nichts mehr. Für 20 Rupien werden im arabischen Viertel Nizamuddin in Delhi Essensscheine für Arme verkauft. Im Fersensitz hocken sie reihenweise vor den Garküchen und warten. Sie reden nicht, und zu leben scheinen nur noch ihre Augen. Ein Bettler in Jodhpur rollte sich mit verkümmerten Beinen seitwärts durch die Straßen und schob dabei singend seine Gabenschale vor sich her.

Gibt es zu viele Inder? In Chandigarh trafen wir einen jungen chinesischen Architekten der neuen Erfolgsgeneration, klug, offen, gewieft – und arrogant. Überbevölkerung sei gar kein Problem, meinte er, im Gegenteil, "people are resources". Er war sich sicher, dass China als aufsteigender Staat den Wettlauf gegen Indien gewinnen werde, schlicht, weil die Chinesen disziplinierter seien.

330 Millionen Götter

Indien hat auch viele Götter, 330 Millionen soll es geben, das ist natürlich eine mythische Zahl, aber es kommen immer noch welche hinzu, während angeblich die alten nie ganz abgeschafft werden. Wenn man mich fragte, was mich am meisten beeindruckt hat auf der Reise, würde ich sagen: die Götterklumpen. Neben den immer reich geschmückten, puppenhaften Statuen von Kali, Krishna, Shiva, Vishnu, Mana Devi, vor denen zumeist auch Geld als Opfergabe abzulegen ist, gibt es oft auch diese eigenartig abstrakten Skulpturen in Orange, die entfernt an Ganesha erinnern, den Elefantengott, aber eher aussehen wie unförmig wild zusammengepappte Farbhaufen, die gerade dabei sind, in sich zusammenzusinken. Garniert sind sie mit Münzen und Blumenkränzen, angebetet wie alle anderen Götter auch. "Wenn du lange und konzentriert hinschaust auf ein Götterbild, verschwimmen die Formen", sagte Sunil Joshi, der Yogalehrer. "Es ist unwichtig, welchen Gott du anbetest, denn alle sind Ausdruck eines höheren Prinzips, das selbst kein Bild mehr hat."

Warum in die Ferne schweifen, wenn das Fremde liegt so nah? – Das wäre wohl die moderne Variante des väterlichen Spruchs. Fernes und Fremde sind eh schon – in Bild, Mensch, Kultur – bei uns angekommen, ein Ausflug nach Wien-Simmering kann mitunter exotischer wirken als ein indischer Tempel, denn Befremdung ist letzten Endes nicht eine Sache der Ferne, sondern eine des Blicks und eine von innen und außen. Ob man dazugehört oder nicht. Trotzdem bleiben das Fernweh und dieser gewisse Mythos des Reisens. Was man von der Welt gesehen hat, ist ja immer die Frage. Im Wettbewerb der Weltläufigkeit stecken noch Reste des kolonialen Erbes. Wir holen nicht mehr nur die Waren aus Übersee, sondern Erlebnisse als kulturelles Kapital.

Götterklumpen

Doch es ist schwer geworden, über das Fremde zu erzählen. Immer gibt es welche, die schon da waren und es besser wissen. Oder welche, die mehr gelesen haben. "You didn't do your homework", kommentierte unser chinesischer Touristenfreund, als wir Unkenntnis über Varanasi durchblicken ließen. Er hatte seine Reise straff organisiert und zeigte uns Fotos der Totenverbrennungen auf seinem Smartphone. Immer wenn er ein neues Bild heranwischte, bewegte es sich für den Bruchteil einer Sekunde wie ein kurzer Film – der neueste Gag aus dem Hause Apple. Was kann man denn in einem fernen Land sehen, wenn alles schon als Hausaufgabe gemacht ist? Andererseits: Was sieht man ohne die Hausaufgaben? Wie viel Naivität braucht es, um sich befremden zu lassen?

Vielleicht ist das Befremdlichste am Reisen aber sowieso das Zurückkommen – denn plötzlich ist alles, wie es vorher war. "Heidrun fährt oft nach Indien und kommt immer wieder verändert zurück", schrieb mir eine Freundin. Ich wollte auch so eine indische Verwandlung, aber ich spürte nichts außer einer Dumpfheit und einer Verwirrung über die Jahreszeiten. In den ersten zwei Wochen nach der Reise träumte ich in fremden Bildern. Wenn ich die Augen schloss, war da Indien, wenn ich sie aufmachte, war da Österreich. Es gab und gibt keine Verbindung. Eigenartig, man sagt immer: Schau auf die Details. Aber ich spüre Indien nicht in Details, sondern als dieses Masala, das jetzt wie ein interessanter, unverstandener Klumpen aus angeschmutztem Orange in mir liegt. Nicht zu vermitteln und unerzählbar. Dass man Indien entweder hasst oder liebt, kann ich nicht bestätigen. Das Land ist viel zu sehr ein Gemisch, als dass es sich mit einem Entweder-oder zufriedengeben könnte.

In Wien gibt es einen kleinen hinduistischen Tempel in der Lammgasse – die Götter sind hier nicht als Figuren, sondern als Bildausschnitte aus Pappe aufgestellt, zweidimensional, aber genauso bunt, mit Leuchtketten behangen und mit Räucherstäbchen bestückt, wie sie es in Indien wären. Letzte Woche war ich dort und entdeckte auch das Lingam, jenen irgendwie obszön länglich nach oben ragenden und von einer Rinne umgebenen Speckstein, bei dem wir auf der Reise lange rätselten, was das war, bis uns die Mutter eines indischen Freundes aufklärte: "Ah, that's Shiva." Klar. Die Götter können jede Gestalt annehmen. Vielleicht sollte ich der indischen Verwandlung noch etwas Zeit geben. (Andrea Roedig, 11.6.2017)