Die globale Armut ist in den vergangenen Jahrzehnten zwar stark gesunken. Noch immer gibt es aber hunderte Millionen Menschen, die extrem arm sind. Warum? Der Globalisierungskritiker Jean Ziegler diskutierte auf Einladung des STANDARD mit dem Ökonomen Harald Badinger. Ziegler (83) ist Soziologe, Autor und bekannt für seine Globalisierungskritik. Zuletzt ist sein autobiografisches Buch "Der schmale Grat der Hoffnung" bei C. Bertelsmann erschienen. Badinger (43) ist Vorstand des Instituts für Internationale Wirtschaft an der Wiener Wirtschaftsuni. Dort beschäftigt er sich unter anderem mit der Globalisierung.

Zwischendurch wollte Jean Ziegler (rechts) das Streitgespräch mit Harald Badinger abbrechen. Er ließ sich dann aber doch dazu überreden, weiterzumachen. Ziegler wollte über sein im Vorjahr erschienenes Buch reden, "nicht mit einem Neoliberalen diskutieren".
Regine Hendrich

STANDARD: Herr Badinger, warum gibt es 2017 noch immer Armut?

Badinger: Die absolute Armut ist in den letzten Jahrzehnten stark zurückgegangen. In vielen Ländern, wo die Armut noch extrem ausgeprägt ist, herrschen diktatorische oder pseudodemokratische Regime ohne rechtsstaatliche Institutionen und ohne Schutz von Eigentumsrechten. In solchen Ländern kann sich die Wirtschaft kaum entfalten.

STANDARD: Wie erklären Sie sich das, Herr Ziegler?

Ziegler: Wir leben in einer kannibalischen Weltordnung. Die Oligarchie des globalisierten Finanzkapitals hat eine Macht, wie nie zuvor. Die 85 reichsten Milliardäre haben so viel Vermögen wie die ärmsten 4,5 Milliarden Leute. Die 500 größten Konzerne kontrollieren 52,8 Prozent des Bruttoweltproduktes. Dieser unglaublichen Machtballung gegenüber stehen die Leichenberge der Dritten Welt, alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. Diese Weltordnung muss man stürzen.

Badinger: Die 500 Unternehmen stehen miteinander teils in einem sehr intensiven Wettbewerb. Das ist kein Konglomerat, das gemeinsam gegen Staaten agiert. Und einzelne Unternehmen davon haben einen globalen Wertschöpfungsanteil von weit weniger als einem Prozent, dagegen haben große Volkswirtschaften wie die USA oder die EU einen Anteil von über 20 Prozent. Aber auch kleine Staaten haben nach wie vor sehr viel Macht und politischen Gestaltungsspielraum. Was aber fehlt, ist eine stärkere internationale Zusammenarbeit.

Regine Hendrich

STANDARD: Herr Ziegler, überschätzen Sie die Macht der Konzerne?

Ziegler: Ich bin einverstanden, es müsste international etwas geschehen. Ein Beispiel: Im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen wird gerade eine Konvention diskutiert, die Konzerne dazu verpflichten soll, Menschenrechte einzuhalten. Wenn sie es nicht tun, können zum Beispiel die Opfer von Landraub in Benin auf Schadenersatz im Ursprungsland des Konzerns klagen. Diese Konvention wird von allen westlichen Industriestaaten bekämpft, auf Druck der Konzerne.

Badinger: Niemand, der vernünftig ist, wird gegen die Einhaltung der Menschenrechte argumentieren. Aber Konzerne müssen sich ja an die Gesetze des Landes halten, in dem sie operieren. Die Frage ist, warum gibt es in diesen Ländern keine Menschenrechte bzw. werden diese nicht durchgesetzt? Das hat nichts mit der Globalisierung zu tun. Das ist ein politisches Problem vor Ort.

STANDARD: Nehmen wir an, die Konvention geht durch, und Firmenchefs müssen verantwortlicher handeln. Löst das das Grundproblem, warum es noch immer so viel Armut auf der Welt gibt?

Badinger: Wenn Konzerne in Entwicklungsländern investieren, leisten sie einen Beitrag zur wirtschaftlichen Entwicklung. Man muss aufpassen. Konzerne wenden zwar niedrigere Standards an als bei uns, im Vergleich mit den Firmen vor Ort haben sie aber meist höhere Standards, dafür gibt es sehr starke Evidenz. Ich bin aber kein Anwalt internationaler Konzerne, dass es Korruption, Machtmissbrauch und Ausbeutung gibt, ist ebenso evident.

Regine Hendrich

STANDARD: Sind Konzerne das Beste, was einem armen Land passieren kann, Herr Ziegler?

Ziegler: Nein! Im Gegenteil. Das ist Vormundschaft und Neokolonialismus. Die Schweizer Ökonomie wird von zwei Großbanken beherrscht, deren Bilanz ein Vielfaches größer ist, als die Schweizer Wirtschaft. Wenn die Credit Suisse oder die UBS in die Nähe des Konkurses kommen, ist das lebensgefährlich für das Land. Dieser Übermacht muss man begegnen, indem man sie verstaatlicht und unter öffentliche Kontrolle stellt. Und jetzt stellen Sie sich vor, wie das in der Elfenbeinküste, Mongolei oder in Bangladesch ist. In der Elfenbeinküste beispielsweise wird die Wirtschaft vom Nestlé Konzern total dominiert.

STANDARD: Nehmen wir an, wir verbieten große Konzerne, führen etwa eine Obergrenze für ihren Umsatz ein und machen dasselbe mit den Reichen. Ist die Armut dann einfacher zu bekämpfen?

Ziegler: Der erste Schritt ist die Umsetzung der oben erwähnten Konvention im Uno-Menschenrechtsrat. Ich will Konzerne nicht zerschlagen. Ich bin für die normative öffentliche Kontrolle von Großbanken und Konzernen.

STANDARD: Sind Arme arm, weil Reiche reich sind, Herr Badinger?

Badinger: Man kann den Reichen alles wegnehmen, aber das ist nur ein Einmaleffekt, das ändert nichts, man braucht laufend generiertes Einkommen, das System muss funktionieren. Wir leben außerdem in einem Rechtsstaat. Mit welchem Recht kann der Staat sagen, ich enteigne bestimmte Personen oder Unternehmen? Das sind sehr heikle politische Fragen, die da in den Lösungsvorschlägen von Herrn Ziegler stecken.

Ziegler: Die Konten der reichsten Milliardäre zu blockieren und dann auf die Straße zu gehen und die Dollarnoten zu verteilen, das ist ein Blödsinn. Es geht um Reformen, die die Allmacht der Oligarchien brechen. Einer der Gründe für das tägliche Massaker des Hungers sind die Börsenspekulationen durch Hedgefonds und Großbanken auf Grundnahrungsmittel, die die Preise für Reis, Getreide, Mais in die Höhe treibt. Diese Spekulation kann morgen früh verboten werden und Millionen von Menschen wären in kurzer Zeit gerettet. Das muss man machen: Die Uno-Konvention, dann diese Börsenspekulation verbieten. Dann die Totalentschuldung der Länder der Dritten Welt, damit die endlich Geld haben, um in Schulen, Infrastruktur, Landwirtschaft zu investieren.

Regine Hendrich

STANDARD: Was kann man darüber wissenschaftlich sagen, treiben die Spekulanten die Preise nach oben?

Badinger: Langfristig ist es wohl nicht die Spekulation, die die Preise treibt. Sie erzeugt eine hohe Volatilität, die kann auch sehr schädlich sein, aber die langfristige Entwicklung hängt von Angebot und Nachfrage ab. Wir haben ein enormes Bevölkerungswachstum auf der Welt, das die Nachfrage nach Nahrungsmitteln nach oben treibt. Das Angebot ist begrenzt. Das sorgt für Preisdruck.

STANDARD: Haben Sie keine Studien zum Thema gelesen, Herr Ziegler?

Ziegler: Natürlich. Es ist absolut evident, dass die Börsenspekulation die Preise nach oben treibt.

Badinger: Spekulation ist das Ausnutzen von Preisschwankungen, sowohl nach oben als auch nach unten, nicht das Wetten auf langfristige Trends, schon gar nicht, wenn es um nur beschränkt lagerfähige Produkte wie Nahrungsmittel geht.

Ziegler: Es ist einfach so, dass der World Food Index der FAO ständig steigt. Einer der Gründe -- das mit dem Bevölkerungswachstum stimmt auch -- ist die Börsenspekulation. Punkt. Aber ich möchte nicht über Weltmarktpreise reden. Sie sind ein installierter, neoliberaler Ökonom, die beherrschen die Welt. Ich bin Sozialist.

Badinger: Ich bin politisch völlig einflusslos, glauben Sie mir.

Regine Hendrich

STANDARD: Zusammengefasst: Herr Ziegler meint, Armut wird hauptsächlich durch die Weltordnung verursacht, Herr Badinger hält die Struktur vor Ort für entscheidend. Wenn wir die Weltordnung ändern, würde sich dann Afrika so gut wie Europa entwickeln, Herr Ziegler?

Ziegler: Ein Beispiel. Die Agrarproduktivität in der Sahelzone ist sehr niedrig. Ein Hektar Getreide gibt 600 bis 700 Kilo pro Jahr in Benin, Niger und in Mali. In raren, normalen Zeiten, ohne Dürrekatastrophe oder Krieg. In Baden-Württemberg sind es 10.000 Kilo. Nicht weil der europäische Bauer so viel klüger oder arbeitsamer wäre, sondern weil der afrikanische Bauer keinen Dünger hat, keine Bewässerung, keine Agrarkredite. Wenn man die Auslandsschulden der 50 ärmsten Agrarstaaten der Welt streichen würde, könnten diese Länder das wenige Geld, das sie mit dem Export von Baumwolle oder Erdnüsse verdienen, nehmen und es in die Landwirtschaft investieren. Dann würde die Landwirtschaft zur Ernährungsautonomie insbesondere in Afrika führen. Ganz sicher. Ich sage, es braucht die und die und die Reform, damit eine Chance besteht, dass die Armut aus der Welt geschafft wird. Dass Korruption und Nepotismus dann das Resultat verzerren wie zum Beispiel im Kongo, das kann passieren.

Badinger: Noch eine allgemeine Anmerkung. Ein großer Unterschied ist, dass Herr Ziegler viel mit Beispielen argumentiert, gute Geschichten erzählt und daraus seine politischen Argumente ableitet. Ich bin halt Wissenschafter.

Ziegler: Ich bin Wissenschafter, genau wie Sie!

Badinger: Dann müssen Sie wissenschaftliche Studien lesen und deren Ergebnisse akzeptieren. (Andreas Sator, 11.6.2017)