Die EU steht derzeit vor so vielen finanziellen, politischen und sozialen Krisen, dass es schwierig ist, dasjenige unter den vielen Probleme zu identifizieren, das womöglich zum Katalysator ihres Untergangs werden wird. Die aktuell größte Krise ist wohl die große Zahl an Einwanderern, die täglich an den EU-Grenzen ankommen. Schon länger leidet Europa unter einer labilen Bankenstruktur und unter dem weiter wachsenden öffentlichen Misstrauen gegenüber den politischen Institutionen der EU.
Zusammengenommen ergibt das einen "perfekten Sturm" von Krisen, der in den nächsten Jahren fast sicher zu einer stark veränderten EU führen wird, wenn nicht gar zu ihrer völligen Auflösung. Im Folgenden sollen hier – mit Hilfe von Werkzeugen wie der "sozialen Stimmung" und der Komplexitätsanalyse – mögliche Wege skizziert werden, die dieser Zusammenbruch nehmen könnte.
Soziale Stimmung und die EU
Das einfachste "Soziometer" zur Messung der sozialen Stimmung ist der Euro Stoxx 50 Index, der die Börsenkurse der fünfzig größten Konzerne in Europa mittelt. Abbildung 1 zeigt den Index für den Zeitraum von 1987 bis 2016. Wir sehen, dass politisch "angenehme" Dinge tendenziell immer dann passierten, wenn die Stimmung in der Gesellschaft positiv war, während "unangenehme" Ereignisse dann auftraten, wenn die Stimmung negativ war.
Abbildung 2 zoomt in den Zeitraum von 1998 bis 2016 und zeigt unter anderem, dass in den Jahren der Hilfspakete der Index stark nach unten rutschte. Kurz gesagt: Die soziale Stimmung in Europa ist negativ und bewegt sich etwas längerfristig betrachtet nach unten. Und das wiederum begünstigt entsprechend wenig erfreuliche Ereignisse in Politik und Wirtschaft.
Wirtschaftliche Komplexitätsbewältigung
Wenden wir uns nun Fragen der Komplexität zu, die zu EU-Krisen führen. Dabei wird von der Annahme ausgegangen, dass unterkomplexe Reaktionen auf komplexe Probleme eben diese weiter vertiefen. Am einfachsten ist es, jede der drei großen Krisen – die ökonomische, die politische und die soziale – vom Standpunkt der jeweiligen Systeme und ihrer jeweiligen Komplexität zu betrachten.
Beginnen wir mit der Wirtschaftskrise und gehen wir davon aus, dass Mitgliedsländer der Eurozone Systeme sind, die mit dem Rest der Weltwirtschaft interagieren. Wären die Länder nicht im starren Korsett der Eurozone, besäßen sie vielfältige Möglichkeiten, um die sich ändernden wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu bewältigen. Sie könnten zum Beispiel die eigene Währung anpassen, die Zinsen erhöhen oder senken, Handelszölle und dergleichen verhängen. Mit anderen Worten: Sie hätten – gemessen an den Graden der ökonomischen Freiheit – eine hohe Komplexität an Handlungsoptionen zur Verfügung.
Stattdessen sind diese Handlungsoptionen stark eingeschränkt, da kein Land einseitig handeln kann, sondern nach dem Diktat der Europäischen Zentralbank handeln muss. So entsteht eine Kluft zwischen einem hochkomplexen System (der Welt) und einer geringen Komplexität (die Eurozone-Mitgliedsstaaten). Darlehen der wohlhabenderen Ländern der Eurozone und die Bemühungen der EZB, diese Komplexitätskluft zu schließen, könnten letztlich das Gegenteil bewirken und zum Ende des Euros führen.
Politische Krisen und Komplexität
In Sachen politischer Krise bietet das Brexit-Referendum im Juni 2016 ein perfektes Beispiel: Ein nationales politisches System steht in Konkurrenz zur supranationalen Technokratie in Brüssel, die eine Beschränkung der nationalen Souveränität erfordert, um eine europäische Bundesunion zu erreichen. Das britische Wahlvolk ist hier das System der geringen Komplexität, für das Brüssel in den letzten Jahren allzu komplex wurde.
Eine ähnliche gleiche Diskrepanz zwischen niederer und hoher Komplexität finden wir auf Länderebene. In praktisch jedem EU-Land haben die Wähler den Glauben an ihre Politiker verloren und sehen die nationale Regierung als ein lokales Brüssel-Surrogat. Das führte in den letzten Jahren zu einer Abkehr von Politikern der moderaten Mitte hin zu zu populistischen Kandidaten weit rechts und weit links, die eine Rückkehr zu einer einfacheren, gemütlicheren Vergangenheit versprechen.
Jene Parteien, die Zulauf erhielten, sind euroskeptisch eingestellt, was die Aufrechterhaltung einer die EU nicht eben erleichtert. Dazu kommt eine nicht unbeträchtliche soziale Krise: die enorme Zunahme der Arbeitslosigkeit in den letzten fünfzehn Jahren, von der vor allem die südlichen Ländern der EU betroffen waren, siehe die folgende Abbildung:
Dilemmata im Umgang mit Flüchtlingen
Die dominierende soziale Krise in Europa ist heute der Umgang mit dem massiven Zustrom von Zuwanderern und Flüchtlingen. Allein im Jahr 2015 kamen in der EU über 1,3 Millionen Menschen aus dem Nahen Osten und Mittleren Osten sowie Afrika an. Auch bei der Bewältigung dieser Herausforderung gibt es zwischen der EU und den Migranten ein Komplexitätsdilemma. Gegenwärtig besitzt die EU in der Frage nur vergleichsweise geringe Komplexität, weil sie nur wenige Maßnahmen ergreifen kann: entweder weiter Flüchtlinge aufnehmen oder die Grenzen dicht machen. Die Migranten auf der anderen Seite können grundsätzlich an die Tür eines jeden der 28 EU-Mitgliedsstaaten klopfen. Das schafft eine enorme Spannung.
Was kann man in der Situation machen? Eine diplomatische Anstrengung, den Krieg in Syrien zu beenden, ist ebenso ein Desiderat wie die Sicherung der Grenzen im Mittelmeer. Vor allem aber muss die EU den Aufbau einer umfassenden, koordinierten Migrationspolitik unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen, humanitären Sicherheit und politischen Faktoren bewerkstelligen. Dies bedeutet, dass eigene EU-Institutionen geschaffen werden müssen, was wiederum eine Übertragung der Souveränität aus einzelnen EU-Staaten bedeuten würde.
Wenig optimistische Analysen
Es ist offensichtlich, dass einer solchen EU-koordinierten Migrationspolitik viele Staaten nichts abgewinnen können. Während eine komplexe Lösung dieser sozialen Krise sein könnte, die Migration zu einer außenpolitischen Angelegenheit aufzuwerten, sieht man sie lieber "unterkomplex" als eine Angelegenheit der Strafverfolgung.
Was also wird in den nächsten Wochen und Monaten mit der Europäische Union passieren? Im Moment sind Prognosen schwierig. Aber diese hier angedeuteten Analysen machen nicht gerade optimistisch und legen nahe, dass die EU, wie wir sie kennen, fast sicher implodieren wird. (John Casti, 22.6.2017)