Hansjörg Hofer wünscht sich eine Abkehr vom in Österreich noch immer dominierenden Fürsorgegedanken in der Behindertenpolitik. Er gehe vor allem um Ermöglichung von Teilhabe.

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STANDARD: Sie wurden am 5. Mai, dem Europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung, als neuer Behindertenanwalt präsentiert. Wie weit sind wir mit der Gleichstellung?

Hofer: Es ist viel geschehen, aber es gibt noch immer sehr viel zu tun. Das Behindertengleichstellungsgesetz ist seit 2016, nach Ablauf der zehnjährigen Übergangsfrist für Barrierefreiheit, voll in Kraft, und es zeigt sich: Die öffentliche Hand hat nicht alles, aber vieles getan, und die Wirtschaft weiß zumindest, was sie tun müsste. Das Bewusstsein ist gestiegen, wenngleich noch einiges fehlt. Die Mariahilfer Straße ist ein Beispiel dafür. Die wurde nach 2006 neu gestaltet, eigentlich hätte man da alles machen können, aber es ist nicht alles geschehen.

STANDARD: Wie kann es sein, dass so ein großes Projekt, noch dazu in Verantwortung einer Stadt, nicht barrierefrei realisiert wird?

Hofer: Es fehlt an Bewusstsein und an der entsprechenden Ausbildung der Ausführenden. Ein Weg wäre, bei der Ausbildung barrierefreies Bauen zumindest als Pflichtfach zu verankern. Es ist lächerlich, dass man in Österreich Architekt oder Baumeister sein kann und nicht weiß, was hundert Prozent der Menschen für komfortabel erachten werden, 40 Prozent für sehr notwendig und zehn Prozent für unerlässlich. Das ist so. Wenn Sie einen Kinderwagen schieben oder schwere Einkaufstaschen schleppen, sind Sie auch froh, wenn Sie nicht Stiegen steigen oder irgendwelche Hindernisse überwinden müssen, das betrifft auch ältere Menschen. Barrierefreiheit heißt: Es ist für alle nutzbar und für manche unbedingt notwendig. Und es erschließt ja auch Kundenkreise.

STANDARD: Die Beschwerden bei der Behindertenanwaltschaft sind im Jahr 2015 um sieben Prozent auf 1411 gestiegen. Ein Zeichen, dass es mit Inklusion nicht gut läuft?

Hofer: Das ist zu vereinfachend, glaube ich. Die Leute wissen auch mehr, dass sie nicht alles hinnehmen müssen, sondern sich wehren können. Das würde ich sogar eher positiv sehen. Aber trotzdem: Die Inklusion braucht noch viel, viel Zeit.

STANDARD: Was fehlt am meisten, um Inklusion zu verwirklichen?

Hofer: In den Köpfen fehlt vieles, weil es ist ein Unterschied, ob ich sage, das Armutschkerl darf irgendwo mitmachen, oder ob ich ein System wirklich so aufstelle, dass das Armutschkerl ein ganz normaler Mensch ist, der ganz normal teilhaben kann. Es gibt noch immer dieses Armutschkerl-Denken, den Glauben, dass man Fürsorge und Mitleid empfinden muss. Muss man nicht. Man muss nur einen Menschen mit seinen Eigenschaften so nehmen, wie er ist, und eine Eigenschaft kann seine Behinderung sein. Aus. Bei nicht behinderten Menschen sieht man den Menschen mit gewissen Eigenschaften, was weiß ich, mit blonden oder brünetten Haaren ... Bei einem Rollstuhlfahrer oder einem anderen Menschen mit Behinderung sieht man oft zuerst den Rollstuhl, die Behinderung und nachher den Menschen.

STANDARD: Stichwort falsche Fürsorge. Wo zeigt sich die?

Hofer: Wenn ich etwa in ein Museum gehe, zahle ich als Mensch mit Behinderung weniger oder gar nichts, weil ich ja angeblich so arm bin. Ich bin nicht arm. Ich kann mir den Eintritt genauso leisten wie andere auch. In den USA zahle ich, wenn ich zum Beispiel auf das Empire State Building hinauffahren will, den vollen Preis, meine Begleitperson aber, die ich brauche wegen meiner Behinderung, zahlt nichts. Die würde ja nicht hingehen, wenn ich nicht wäre. Das ist der richtige Gedanke. Es geht nicht darum, Fürsorge auszuüben, sondern nur um die Ermöglichung der Teilhabe.

STANDARD: Was sind die häufigsten Gründe für Beschwerden bei der Behindertenanwaltschaft?

Hofer: Wir haben relativ viele Beschwerden im Bereich Bildung, weil Eltern meinen, ihre Kinder mit Behinderung werden nicht so unterrichtet oder beschult, wie es richtig wäre. Wir haben viel im Bereich Beschäftigung. Ein ganz wichtiges Thema ist, dass man in Österreich relativ rasch abgestempelt werden kann als arbeitsunfähiger Mensch und dann keine Unterstützung vom AMS bekommen kann, um einen Job zu finden. Das AMS ist nur zuständig für Menschen, die arbeitsfähig sind. Ich kritisiere, dass diese Einstufung als angeblich arbeitsunfähig oft sehr früh, in sehr jugendlichem Alter geschieht, und man weder Rücksicht darauf nimmt, welche Entwicklungsmöglichkeiten dieser Mensch noch vor sich hat und wie viele Unterstützungsangebote es schon jetzt vom AMS oder vom Sozialministeriumservice gibt, die durchaus einen Teil der Behinderung sehr gut ausgleichen können.

STANDARD: Die Arbeitslosigkeit unter Menschen mit Behinderung ist auf einem Rekordwert angelangt. Sind die Ausgleichstaxen, die "Strafzahlungen" für Unternehmen, die nicht genug Behinderte einstellen, zu gering?

Hofer: Die sollte man sicher anheben, aber mir geht es auch darum, mehr Anreize zu schaffen für die Unternehmer. Dafür braucht es Geld, das unter anderem durch eine Erhöhung der Ausgleichstaxe von denen zu holen wäre, die nichts oder weniger tun, als sie müssten. Überlegenswert wäre auch, das System zu verbreitern. Jetzt sind nur Unternehmen mit mehr als 24 Mitarbeitern angesprochen. Das sind in Österreich nur drei Prozent aller Unternehmen.

STANDARD: In Österreich sollen bis 2020 die Sonderschulen nur noch Ausnahme sein. Sind Sie für die Abschaffung der Sonderschulen?

Hofer: Nein, ich bin nicht für die Abschaffung, ich bin eher für einen Umbau beziehungsweise eine Öffnung der Sonderschulen. Man sollte sie so reformieren, dass sie auch Schülerinnen und Schüler ohne Behinderung aufnehmen können, um die gute Ressourcenlage, die es dort gibt, nämlich mehr Lehrkräfte, kleinere Klassen, zum Teil auch mehr Geld, auch Schülern zukommen zu lassen, die nicht behindert sind. Wenn ich in eine Sonderschule auch Kinder ohne Behinderung aufnehme, habe ich auch Inklusion geschaffen, nur auf einem anderen Weg.

STANDARD: Apropos Barrieren. Die merkt man mitunter selbst, wenn es darum geht, welche Sprache angemessen ist oder nicht. Welche Diktion bevorzugen Sie? Behinderte, Menschen mit besonderen Bedürfnissen, Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen?

Hofer: Ich sage Menschen mit Behinderung. Ich sage absichtlich nicht besondere Bedürfnisse, weil das nicht stimmt. Jeder Mensch hat besondere Bedürfnisse, nicht nur Menschen mit Behinderung. Behinderte als Hauptwort finde ich auch nicht gut, weil das diese Eigenschaft zum Menschen macht. In Gesetzen gibt es das noch, aber im normalen Sprachgebrauch würde ich das ablehnen. Die UN-Konvention sagt Menschen mit Behinderungen, aber mir gefällt mit Behinderung besser, weil manche Menschen haben nur eine Behinderung.

STANDARD: "Vergessen S' den Buben, stecken S' ihn in ein Heim", hat ein Arzt Ihren Eltern nach Ihrer Geburt "geraten". Das war 1959. Sie haben ihn ignoriert, Sie ins Gymnasium geschickt, Sie studierten Jus. Wie sehr ist es heute noch so, dass es von der elterlichen Kraft abhängt, welche Chancen behinderte Kinder in Österreich haben?

Hofer: Sicher weniger als früher, aber sicher noch immer. Wenn ich es mir einfach machen will oder muss, weil ich selbst nicht die Bildungsnähe oder die materiellen Ressourcen habe, ist die Gefahr, dass bei Kindern mit Behinderung automatisch der Sonderschulweg gegangen wird und dann in eine Sondereinrichtung wie Werkstätten für Menschen mit Behinderung führt, sehr groß. Wenn man einmal in diesem System der Sonderwege ist und stigmatisiert als Mensch, der Sondereinrichtungen braucht, dann kommt man kaum mehr heraus.

STANDARD: Sie sind mit einer Zerebralparese geboren, mit der gewisse Bewegungseinschränkungen verbunden sind. Haben Sie selbst auch Stigmatisierungen oder Diskriminierungen erlebt?

Hofer: Wenige, aber es gab schon welche, eine hat mich auch ein Stück weit geprägt. Der einzige Professor, der im Gymnasium an meiner Schrift Mängel feststellen wollte, die sicher vorhanden waren, ich schreibe nicht sehr schön, war der Religionslehrer. Da finde ich, verkündete Toleranz und das Verhalten passen irgendwie nicht so ganz zusammen. Wenn die Mathematikprofessorin gesagt hätte, du, das Dreieck ist kein richtiges Dreieck, das wäre nachvollziehbar gewesen. Wirklich diskriminierend fand ich etwas anderes: Ich wollte eigentlich nach dem Studium Rechtsanwalt werden. Aber es gab keinen Anwalt, der mich als Praktikanten aufgenommen hätte. Manche haben gesagt, sie selber haben da ein bisschen Probleme, ob ich das wirklich kann. Manche haben gesagt, die Kunden könnten ein Problem haben, auf jeden Fall hat keiner gesagt: Ich nehme Sie. (Lisa Nimmervoll, 16.6.2017)