Marco Arturo Marelli meint, man solle bei seiner Regie "nicht sofort erkennen, dass sie von mir ist".

Foto: APA

STANDARD: Wie interpretiert man eine Oper, szenisch?

Marelli: Wie interpretiert man eine Oper? – Es gibt einen emotionalen Zugang und einen intellektuellen. Ich bin ja Bühnenbilder und Regisseur. Als Bühnenbildner ist der Zugang eher emotional, als Regisseur eher intellektuell. Das heißt: Ich versuche, mir das Stück einzuverleiben. Meistens besorge ich mir alle Aufnahmen und höre sie, bis in mir etwas wächst. Dann überprüfe ich das. Der emotionale Teil will etwas – und dann muss das auch noch klug sein.

STANDARD: Am Beginn steht also ein Raum, eine Atmosphäre?

Marelli: Eher eine Atmosphäre, ein innerer Raum. Es gibt ja ein Buch über mich mit dem Titel Ich höre den Raum. Das wird immer über mich gesagt. Ich weiß gar nicht, ob das stimmt.

STANDARD: Entstehen Ihre Ideen also durchs Hören in einem teilweise unbewussten Prozess?

Marelli: Unbewusst, ich weiß nicht ... Ich frage mich immer, was das Stück von mir verlangt, um es einem heutigen Publikum nahezubringen. Ich frage weniger, was ich will, sondern was das Werk von mir will. Ich will ein Stück nicht benutzen, die Idee muss aus ihm entstehen. Ich versuche, für jedes Stück eine eigene Sprache, eine individuelle Erzählweise zu finden. Es ist mir sehr wichtig, dass nicht der Lappen hochgeht und man sofort erkennt, dass es von mir ist. Pelléas et Mélisande etwa ist ja im Verruf, nicht verständlich zu sein, da es ein symbolistisches Stück sei. Ich habe das nie so empfunden.

Ich versuche, die Geschichte ganz real zu erzählen. Natürlich hat das Stück einen doppelten Boden: Es gibt eine Schicht, die drunter läuft, aber die muss sich ergeben. Wenn ich nur die erzähle, kann ich die Handlung nicht klarmachen.

STANDARD: Es gibt also neben der konkreten Geschichte einen dunklen verborgenen Untergrund?

Marelli: Ja, man sieht immer nur eine Seite der Wahrheit. Das ist auch im Leben so. Pelléas ist ein depressives, hartes Stück. Außer dem ersten Bild spielt alles auf einem düsteren Schloss. Es geht um den Untergang eines Hauses, ein Mann, Golaud, versucht eine Frau, Mélisande, hineinzubringen. Sie fühlt sich da nicht wohl, er geht nicht darauf ein, und sie beginnt zu seinem Bruder Pélleas eine poetische Beziehung. Die Tragik will, dass ihr Mann dieses unschuldige Verhältnis nicht erträgt. Die Figuren sind so schicksalhaft miteinander verbunden. Es wird nicht ausgesprochen, dass sich das zur Katastrophe steigert. Es ist ja eine Dreiecksgeschichte, wie sie jedem passieren kann, nur wird sie von Maeterlinck und Debussy mit einer unglaublichen Wucht und Ausweglosigkeit geschildert. Jede Probe macht mich völlig fertig, weil ich mit dem Stück so mitleide und diese Figuren nicht aufhalten kann, die ins Grauen rennen. Für mich ist es ein einmaliges Werk, vielleicht das Opus maximum der Operngeschichte, weil es nie pathetisch ist, immer Raum lässt – ein unglaublich tiefes Stück.

STANDARD: Wie sind Sie hier zur Bilderwelt gekommen?

Marelli: Es gibt da keine Szene, in der nicht von Wasser gesprochen wird. Golaud findet Mélisande an einem Brunnen, dann gibt es den Brunnen der Blinden usw. Auch Debussys Musik ist eng mit dem Wasser verbunden. Es ist auch ein Bild des Unbewussten. Das Zen trum der Bühne ist einfach Wasser: ein Bild von Tiefe, man kann hineinfallen und damit spielen. Und es ist auch das Element der Musik, die ganz organisch ist – eine seltene Qualität. Ich wollte also das Wasser haben und einen abgeschlossenen Raum, einen Rückzugsort. Für den Tod von Mélisande suchte ich das Bild einer Seelenfahrt, denn diesen Schluss sehe ich nicht so realistisch. Es ist nicht einmal komponiert, dass sie stirbt – man weiß gar nicht, wann was passiert. Es ist eher ein Gleiten in eine andere Welt.

STANDARD: Gibt es da Hoffnung?

Marelli: Ja, unbedingt! Für mich ist es jedes Mal eine unglaubliche Katharsis. Indem man diese Oper sieht, sollte man bewusster leben. Indem man sieht, wie es der Katastrophe zusteuert, kann man lernen, mit seiner Emotionalität so umzugehen, dass man niemanden verletzt und demütigt. Man sieht, wohin fehlgeleitete Emotionen führen können. Es gibt archetypische Situationen, Verlassenheit, Traurigkeit, Sehnsucht. Das sind Lebensthemen, die jeden betreffen. Ich kann durch dieses Stück reflektieren, wie ich lebe, wo ich Selbsterfüllung leben kann in einem Moment von Achtsamkeit und Bewusstheit. (Daniel Ender, 15.6.2017)