Wie viele Punkte fehlen von 47,5 Prozent auf den Wahlsieg? Cédric Villani kann über diese Rechenaufgabe nur lachen. Der Inhaber der Fields-Medaille, der weltweit angesehensten Mathematiker-Auszeichnung, gibt eine Antwort, die zumindest politisch korrekt ist: Auch wenn er im ersten Durchgang der Parlamentswahlen ein gutes Resultat erzielt habe, gelte es, "mobilisiert zu bleiben".
"Gut" ist stark untertrieben. Hinter Villani, der hier im Pariser Vororte-Departement Essonne ebendiese 47,5 Prozent geholt hat, musste sich die Zweitplatzierte, die Konservative Laure Darcos, im ersten Wahlgang mit nur 16,8 Prozent begnügen. Die übrigen 13, meist linken, Kandidatinnen und Kandidaten sind ausgeschieden und rufen mehrheitlich zur Wahl des Parteilosen Villani auf.
Die Lösung der Rechenaufgabe: Der 43-jährige Familienvater mit dem exotischen Look irgendwo zwischen Dandy und Hippie darf in der Stichwahl an diesem Sonntag mit dem Einzug in das 577-köpfige französische Parlament rechnen. Wie etwa 400 weitere "Marcheurs", wie die Kandidaten der Macron-Bewegung La République en Marche (LRM) heißen.
Star wider Willen
Villani ist wohl der bekannteste von allen. Ein Star wider Willen. Mit seiner bunten Künstlerschleife und der obligaten Spinnenbrosche am Revers – deren tiefere Bedeutung er geheimhält – verkörpert der weltweit angesehene Mathematiker die politische Erneuerung Frankreichs. Wo er steht? "Weder links noch rechts", antwortet er dem STANDARD und fügt hinzu: "Aber auch nicht in der Mitte." Das heißt? "Dogmenfrei, pragmatisch, integer, außerhalb des Systems und der Clans" definiert sich Villani. "Wichtig ist mir, dass wir von Vielfalt aller profitieren, dass wir unsere Unterschiede als Bereicherung nützen."
Völlig neu in der Politik ist der freundliche und zurückhaltende Leiter eines Mathematikinstituts nicht: Lokal hatte er schon den Zentristen François Bayrou oder die Sozialistin Anne Hidalgo unterstützt. Seit 2009 wohnt er am Südwestrand von Paris. In den betuchten Vorortsgemeinden haben Freiberufler, leitende Angestellte oder Akademiker meist für Emmanuel Macron als Präsident votiert. Ihre Stimme hat nun auch Villani.
Wahlkampf in der Banlieue
Deshalb konzentriert er seine Anstrengungen heute auf die soziale Kehrseite des Departements. An diesem Nachmittag besucht er Les Ulis, eine 1977 aus dem Boden gestampfte "ville nouvelle" (Neustadt) – heute aber eine Banlieue-Zone mit ziemlich üblem Ruf. Im riesigen Einkaufszentrum steuert Villani auf die einzige Buchhandlung zu. "Bücher sind mein halbes Leben", sagt er und freut sich, dass hier im geistigen Ödland nicht nur auf Handydisplays gelesen wird.
Noch etwas unbeholfen im Kontakt mit den Wählern, kauft der Kandidat zwei Moleskine-Hefte. An der Kasse sagt eine Frau: "Ich habe am Sonntag für Sie gestimmt!" Ein älteres Paar nickt: "Wir auch!" Villani lächelt verlegen, doch der Pensionist hält sich nicht mit Phrasen auf: "Sie werden im Parlament ganz schön Arbeit haben. All das hier muss sich ändern", warnt er, mit vager Armbewegung um sich deutend.
Kriminalität nicht höher als anderswo
Ganz so arg wirkt das Shoppingcenter indes nicht. Dessen Geschäftsführer erklärt Villani, die Kriminalität sei hier nicht höher als anderswo. Der "Marcheur" hört zu und macht sich eifrig Notizen in sein neues Heft. Zuhören statt reden: So lautete schon die erfolgreiche Strategie der "Macron-Helpers" in ihrem so erfolgreichen Präsidentschaftswahlkampf im Frühling.
Mehr redet da schon Villanis Sekundant Baptiste Fournier, der schon in Kabinetten sozialistischer Lokalpolitiker tätig war. Er begeistert sich für Rap-Musiker und Fußballer wie Thierry Henry, Patrice Evra oder Anthony Martial, die hier in den Blocks von Les Ulis aufwuchsen.
Villani korrigiert Fournier: "Die Jugendlichen aus den Einwandererfamilien haben genug davon, schon ab dem Schulalter in die Sparten Musik oder Sport eingeteilt zu werden. Viele fragen mich: Wie kann ich Unternehmer werden? Wie zieht man sein eigenes Business auf?" Deshalb, so berichtet der Abgeordnete in spe, habe er kürzlich ein Forum für Jungunternehmer initiiert. Am meisten beeindruckt habe ihn dabei ein junger Malier: Dieser habe nun selbst einen Verein gegründet, um Praktika für angehende Kleinunternehmer zu organisieren.
Macrons Wertekanon
Als smarter Mathematiker hat sich Villani länger mit der Boltzmann-Konstante befasst als mit der Logik einer Wahlkampagne – doch die Macron'schen Werte wie Arbeit und Unternehmerfreiheit verficht er so überzeugt wie sein politischer Mentor. Wie Macron verurteilt er auch die Kolonialpolitik und verlangt, Paris solle sich bei Algerien entschuldigen.
Ortswechsel in eine Apotheke. Dort nimmt ihn der Chef beiseite: "Wenn Macron seinen Plan umsetzt, den Verkauf von Medikamenten zu liberalisieren und sie auch in Supermärkten zuzulassen, können wir hier dichtmachen!" Villani relativiert wie ein Politprofi: Macron habe sich da noch nicht entschieden und sei stets offen für Vorschläge. Emsig notiert der Kandidat die Ideen des Apothekers, der das alte Monopol seines Berufsstandes wahren will. Beim Abschied weiß er dennoch: Diese Stimme hat er wohl nicht. Doch seine Wahl am Sonntag wird das kaum verhindern. (Stefan Brändle aus Les Ulis bei Paris, 16.6.2017)