Alarmierende Studienergebnisse zum Thema Antisemitismus unter Berufsschülern: Experten fordern, dass Österreich eine klare Strategie erarbeiten muss, die sich vor allem an Muslime richtet.

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Im Fach "Politische Bildung" lernen Berufsschüler über den Nationalsozialismus und Antisemitismus. An der Wiener Berufsschule für Gastgewerbe etwa erzählte der Lehrer vom jüdischen Wiener Mädchen Edith Winkler, 1930 geboren, mit acht Jahren deportiert. 1942 wurde sie ermordet. Die Schüler, viele davon mit muslimischem Hintergrund, diskutieren mit ihrem Lehrer über Feindbilder und Mitläufer – und die Folgen.

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Seit über eineinhalb Stunden läuft schon der Unterricht. Doch die Lust der Schüler zu diskutieren ist ungebrochen. Für die acht Burschen und drei Mädchen, alle besuchen die Berufsschule für Gastgewerbe in der Wiener Längenfeldgasse, steht an diesem Freitagvormittag politische Bildung auf dem Programm.

Zwischen 16 und 19 Jahre sind sie alt, fast alle haben Migrationshintergrund, stammen aus der Türkei, Exjugoslawien, einer aus Bulgarien. Die Schüler sind Lehrlinge. Sie arbeiten vier Tage in der Woche in Restaurants und Hotels. Einmal pro Woche drücken sie die Schulbank.

Lehrer Peter Larndorfer hat sich vorgenommen, heute über den Holocaust zu sprechen. "Was ist Völkermord?", fragt ein Schüler. "Warum haben sich die Nazis die Juden als Feinde ausgesucht?", will ein anderer wissen. "War Hitler nicht selbst ein Jude?", ruft eine Schülerin plötzlich laut dazwischen. Der Lehrer Larndorfer blickt in die Runde, ehe er auf die Sache mit Hitler eingeht. Er sei im Grunde froh über die Frage gewesen, wird er später erzählen. "Vorurteile müssen raus, damit sie bearbeitet werden können."

"Zu viel Einfluss"

Es dürfte einiges geben, was rausmuss. Eine vor kurzem veröffentlichte Studie über die politischen Einstellungen von Lehrlingen deutet darauf hin, dass antisemitische Vorurteile unter muslimischen Schülerinnen und Schülern besonders stark verbreitet sind. Im vergangenen Jahr hat das Zentrum für Politische Bildung an der Pädagogischen Hochschule Wien eine Befragung unter 700 Lehrlingen durchgeführt.

Die Studienautoren Georg Lauß und Stefan Schmid-Heher wollten wissen, wie die angehenden Köche, Tischler, Friseure und Kfz-Mechaniker Österreichs politisches System erleben und wie stark autoritäre Tendenzen ausgeprägt sind. Die Antworten in der Studie, die dem STANDARD vollständig vorliegt, fielen zwischen Schülern mit Migrationshintergrund und jenen ohne sehr ähnlich aus.

Für die Frage, ob sich jemand einen starken Mann im Staat wünscht, macht es keinen Unterschied, ob die Familie aus Ankara oder aus Wien stammt. Doch es gibt zwei Ausnahmen: Unter Schülern, die angaben, dass bei ihnen zu Hause Arabisch, Bosnisch, Türkisch oder Albanisch gesprochen wird, waren deutlich mehr bereit, Muslimen das Recht zuzugestehen, eigene Organisationen zu gründen.

Die Hälfte der Befragten in dieser Gruppe (48 Prozent) stimmte außerdem der Aussage zu, dass "Juden in Österreich zu viel Einfluss haben". Wenn zu Hause Deutsch gesprochen wird, waren es 24 Prozent.

Das "Gerücht" über die Juden

Der deutsche Philosoph Theodor Adorno hat den Satz geprägt, dass Antisemitismus "das Gerücht über die Juden" sei. Dazu gehört die Zuschreibung, Juden übten einen übermäßigen politischen und wirtschaftlichen Einfluss aus, ja lenkten sogar die Weltpolitik im Geheimen.

Die Studienautoren Lauß und Schmid-Heher warnen angesichts der Ergebnisse vor Alarmismus. Doch die Tendenz sei so eindeutig, dass sie von der Notwendigkeit sprechen, die "Aufklärungs- und Präventionsbemühungen" gegen Antisemitismus zu verstärken.

Es ist nicht das erste Mal, dass Untersuchungen zeigen, dass unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit muslimischem Hintergrund in Österreich antisemitische Tendenzen stark ausgeprägt sind. Der Wiener Soziologe Kenan Güngör hat 2015/2016 die Radikalisierungstendenzen unter Wiener Jugendlichen mittels Befragungen untersucht. Demnach haben 47 Prozent der Jugendlichen mit muslimischem Hintergrund eine abwertende Haltung gegenüber Juden. Auch hier war die Abneigung unter Nichtmuslimen deutlich geringer.

Israel als Feind

Doch woher kommen diese Strömungen, wie gefährlich sind sie, und was lässt sich dagegen unternehmen?

Der Soziologe Güngör spricht von einem nach Österreich "importierten Antisemitismus unter Muslimen", dessen Kontext ihn vom europäischen und österreichischen Antisemitismus unterscheide. Der Judenhass in Europa war zunächst religiös gespeist ("Christusmörder"), später entwickelte er sich zu einem rassischen Völkerhass.

Im arabischen Raum dagegen gehöre es zu den "etablierten Narrativen", sagt Güngör, dass der Westen die islamische Welt immer schon unterdrückt habe und Israel die Speerspitze dieser Bewegung sei. Ob in Nachrichten, Talkshows oder im Radio: Israel wird regelmäßig als der große Feind beschworen.

Dabei komme es zu einer Vermengung, bei der zwischen Juden und Israel nicht unterschieden werde. Die Jugendlichen in Österreich bekämen diese Strömungen über verschiedene Kanäle mit, sagt Güngör: aus dem Elternhaus, aber auch aus Medien wie TV und Zeitungen und Social Media wie Facebook.

Zuletzt haben sich antisemitische Strömungen unter türkischen Jugendlichen verstärkt, erzählt der Wiener Kinder- und Jugendanwalt Ercan Nik Nafs, der lange als Jugendbetreuer gearbeitet hat. Israel und die Türkei hatten bis zum Mai 2010 gute Beziehungen unterhalten. Damals stoppten israelische Soldaten eine türkische Flotte mit Hilfsgütern für den Gazastreifen. Bei der Erstürmung des Schiffes Mavi Marmara starben neun türkische Aktivisten. "Ab diesem Zeitpunkt gab es eine staatlich gelenkte Propaganda gegen Israel und Juden in türkischen Medien", sagt Nik Nafs.

Klare Strategie gefragt

Soziologe Güngör hält diesen islamischen Antisemitismus deshalb für gefährlich, weil er mit einem politischen Konflikt in Verbindung steht, er sei "entzündbar". Wenn der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern hochkocht, könnte das in der Folge auch antisemitische Gewaltbereitschaft in Österreich anfachen.

Was also lässt sich tun? Die Frage erscheint umso drängender, als 2015 im Zuge der Flüchtlingsbewegung viele Menschen aus Syrien, dem Irak und dem Iran nach Österreich kamen, also aus jenen Ländern, in denen Judenfeindlichkeit politisch besonders gepflegt wurde und wird. "Wenn es in dieser Gruppe nicht Vorbehalte gegenüber Juden gibt, würde mich das wundern", sagt Güngör.

Der STANDARD hat zahlreiche Experten zu diesem Thema befragt. Fast alle sagen, dass Österreich eine klare Strategie gegen antisemitische Tendenzen entwickeln muss, die sich an Muslime richtet. Die meisten empfehlen, im Bildungssystem anzusetzen: in den Schulen sowie in der Ausbildung für Lehrer und Jugendarbeiter.

Blickpunkt Berufsschulen

Der Historiker Oliver Rathkolb etwa schlägt vor, bereits in Kindergärten und Volksschulen gezielt Vorurteile gegenüber anderen Menschengruppen anzusprechen. Einen besonderen Fokus würde er auf Berufsschulen richten. Österreichweit setzen 38 Prozent der 15-Jährigen ihren Bildungsweg mit einer Berufsausbildung im dualen System fort, mehr als 100.000 Menschen absolvieren derzeit eine Lehre.

In den öffentlichen Diskursen spielen Berufsschulen dennoch kaum eine Rolle, meist dreht sich alles um Universitäten und Elitenbildung. "Doch Berufsschulen gehören in den Blickpunkt", sagt Rathkolb. Zumal in Ballungszentren wie Wien unter den Berufsschülern viele Migranten sind, man also die Zielgruppe gut erreichen kann.

Zu den großen Herausforderungen zählt die Frage, wie man Jugendliche mit Migrationshintergrund erreicht. In den Schulen wird Antisemitismus meist im Zusammenhang mit dem Holocaust behandelt. Der Unterricht ist so konzipiert, dass er sich an die Nachkommen jener Generation richtet, die am Holocaust als Täter beteiligt war oder zugeschaut hat, sagt Rathkolb.

Der Historiker sieht die Didaktik an den Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus kritisch. Gezeigt werde dort primär, dass auch Österreicher Teil der NS-Vernichtungsmaschinerie waren. Damit solle persönliche Betroffenheit ausgelöst werden, sagt Rathkolb.

Nicht "ihre" Geschichte

Bloß: Diese Betroffenheit gibt es unter türkischen und arabischstämmigen Jugendlichen nicht. "Für sie ist der Holocaust Teil der österreichischen und europäischen Geschichte, nicht ihrer."

Rathkolb schlägt vor, Vorurteile zu dekonstruieren, indem man sie mit der Alltagsrealität der Jugendlichen in Verbindung bringt. Ein Ansatzpunkt wäre, die Ausgrenzungserfahrungen der muslimischen Jugendlichen zu nutzen. So sollten die Schüler selbst die Chance bekommen, eigene Erfahrungen von Diskriminierung einzubringen. "Es gibt eine Zunahme von Übergriffen auf Kopftuchträgerinnen. Indem diese Ausgrenzung thematisiert wird, kann man versuchen in einem zweiten Schritt Empathie für andere zu schaffen", sagt Rathkolb.

Er erinnert daran, dass in Österreich der Antisemitismus eine lange Tradition hatte und erst ab den 1980er-Jahren mit der Waldheim-Affäre eine Aufarbeitung des Holocaust begann. Erst ab da sei der weitverbreitete Judenhass zurückgedrängt worden. Nicht hilfreich sei es, auf andere mit erhobenem Zeigefinger zuzugehen und Meinungen zu skandalisieren.

Ausbildung für Lehrer verbessern

Hannah Landsmann vom Jüdischen Museum argumentiert in diesem Punkt ähnlich. Wenn Schüler merkten, dass man ihnen eine bestimmte Meinung aufdrängen, sie "überrumpeln" wolle, schalteten sie auf Abwehr.

Das Jüdische Museum bietet keine expliziten Workshops gegen Antisemitismus an, sondern Programme "für Menschen zwischen drei und 120 Jahren, um das jüdische Leben und den jüdischen Alltag kennenzulernen". "Vorurteile entstehen immer, wenn man etwas nicht kennt", sagt Landsmann.

Viele Workshops richten sich an Schüler. Wenn vorurteilsbehaftete Fragen auftauchen, etwa, ob es stimme, dass Juden in Österreich keine Steuern bezahlen, tritt sie dem unaufgeregt entgegen. "Ich sage dann, dass, wenn dem so wäre, schon alle zum Judentum konvertiert wären. Damit ist die Sache meist entkräftet."

Nicht alle Pädagogen dürften so rasch die richtigen Antworten parat haben. Soziologe Güngör sagt, dass auch die Ausbildung für Lehrer und Jugendarbeiter verbessert werden müsse, damit diese auf Jugendliche mit muslimischem Hintergrund eingehen können.

Lehren aus dem Holocaust

Er gibt ein Beispiel: Schülern werde im Unterricht vermittelt, dass eine der direkten Lehren aus dem Holocaust lautete, dass die Juden einen eigenen Staat brauchten, der sie beschützen könne. Doch was, wenn im Unterricht an dieser Stelle kritische Fragen zu Israels Rolle im Palästina-Konflikt kommen? Viele Lehrer seien darauf ungenügend vorbereitet, meint Güngör.

"Doch genau da sind Diskussionen nötig, um differenziertere Positionen zu schaffen. So könnten Lehrer erzählen, dass die ersten Auswanderungswellen von Juden nach Palästina von einer sozialistisch-kollektivistischen Strömung geprägt waren. Erst viel später wurde damit begonnen, die gegenseitige Feindschaft aufzubauschen."

Experten sind auch darin einig, dass es nicht ausreichen wird, in der Schule klassische Medien einzusetzen. Für Flüchtlinge, die nicht mehr in die Schule gehen, schlägt Güngör in einem ersten Schritt vor, die Wertekurse von derzeit acht auf 16 Stunden auszudehnen. Antisemitismus sollte eines der fixen Themen sein, die behandelt werden. Derzeit tauchen Juden in den Wertekursen im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg auf.

Kampf in den Social Media

Doch in der Praxis kommen neue Herausforderungen für die Präventionsarbeit hinzu. In Österreich setzte man in den 1980er- und 1990er-Jahren stark auf TV und Zeitungen, um Aufklärungsarbeit zu leisten. Klassische Medien erreichen heute Jugendliche viel seltener – die meisten nutzen das Internet als Infoquelle.

Daniela Kern-Stoiber, Chefin des bundesweiten Netzwerks Offene Jugendarbeit, das eine Extremismusberatungsstelle betreibt, sagt, dass man die richtigen Strategien für die sozialen Netzwerke erst suche. Ziel müsse immer sein, mit den Jugendlichen ins Gespräch zu kommen, um zu schauen, was hinter abwertenden Haltungen liege. Ihre Erfahrungen: Oft wollen Jugendliche mit extremistischen Aussagen primär provozieren. "Das sind oft junge Menschen, die soziale Probleme haben, gesellschaftlich ausgegrenzt sind und auf diese Art nach Aufmerksamkeit suchen."

Auf dem Tisch liegen also viele Handlungsoptionen: die frühe Thematisierung von Antisemitismus und Vorurteilen in der Schule und bei außerschulischen Aktivitäten; mehr Fokus auf Berufsschulen; Ausweitung der Wertekurse; größeres Weiterbildungsangebot für Lehrer; Entwicklung neuer Medienkompetenzen. Ansetzen ließe sich etwa bei den Ausgrenzungserfahrungen, welche Migranten selbst gemacht haben.

Zurück zu Larndorfer und seinen Berufsschülern in der Längenfeldgasse. Er handelt die Frage mit Hitler gekonnt ab. Natürlich sei der kein Jude gewesen. Aber interessanter als die Person Hitler sei die Frage, warum Millionen ihm zugejubelt haben. "Weil Menschen Feindbilder brauchen", wird eine Antwort lauten. Vier Stunden dauert der Unterricht. Die Schüler und ihr Lehrer diskutieren lebhaft bis zum Schluss. (András Szigetvari, 17.6.2017)